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S.
PROF. DR. FREUD
WIEN, IX., BERGGASSE 19.
Berchtesgaden13. 8. 1929
Liebe Ruth
Ich weiß nicht, warum ich vor zehn Tagen
plötzlich ausgerechnet hatte, es müßte der
letzte Brief sein, den ich Ihnen schreibe.
Ich mache jetzt gelegentlich solche Dumm-
heiten, die der Anfang seniler Verworr-
enheit sein müßen. Jetzt rechne ich
darauf, daß sie auch noch diesen Brief
erhalten.Ihre Nachrichten über Hitze und Krankheiten
haben mir sehr leid gethan, aber in
Nyork war doch nichts anderes zu erwarten
und Til hat sich offenbar nicht beirren
lassen. Die Sache mit Pa kann man
offenbar ohne viel mehr Details nicht
verstehen, aber ich war nicht besorgt und
höre gern, daß Sie jetzt alle darüber
ruhig sind. Ihr Paßbild mit Baby macht
bei uns Aufsehen.Von hier wäre viel zu erzälen. Gäste,
Gäste von allen Arten, liebste und
gleichgiltigste. Am schwersten zu ertragen
van Emden der einfach seine Ferien
bei uns verbringen wollte und
jetzt den achten Tag in seiner Schwer-
fälligkeit auf uns lastet bei allen
großen Malzeiten u in jeder
freien Stunde. Ich fürchte, er hat einen
sehr schlechten Eindruck von mir,
da ich mich ihm möglichst entziehe,
aber ich halte ihn einfach nicht aus.
Man konnte ihn häufig durch andere
Besucher neutralisiren. Ich arbeite
jetzt von 3‑7 mit McCord, Ruths,
Marie u abwechselnd Anna u Dorothy, -
S.
letztere der theoretisch interessanteste Fall seit Jahren,
an dem ich wieder gelernt habe, der Psycho-
analyse zu glauben. MCord ist nett u tüchtig
geblieben, etwas einfältiger als er mir
zuerst erschien. An Ruths, der mit 15 Sept
abgeht, habe ich wenig Vergnügen, diese
Psychotiker sind doch nicht zu brauchen.
Marie ist sehr verstört durch Erkrankungen
(Tochter, Freund) in ihrer Nähe u wird
in dieser Stim̄ung gut arbeiten. Anna
hat sich nach den Aufregungen des
Kongreßes etwas Nachanalyse gewünscht.Die Arbeit, an deren erste Anfänge
mich Ihr Brief erinnert, ist nun bis
Wien bei Seite gelegt. Sie steht sehr
niedrig in meiner Schätzung, ich
bin neugierig, ob Ihr Enthusiasmus die Lektüre
überstehen wird.Die Prothese hat die Vernachlässigung
dieser 2 Monate schlecht vertragen. Es
sind jetzt besonders dum̄e Störungen,
die mich nötigen, gleich nach Berchtesgaden
Hilfe zu suchen. Ich weiß nicht, ob in
Wien oder Berlin, glaube beinahe,
ich werde trotz aller Opfer doch
wieder zu Schröder, was wenigstens
für Anna eine Verlängerung
der Ferien bedeutet. Sie ist
so gern in Tegel. Meine Bekannt-
schaft mit Til würde durch diesen
Beschluß leider verzögert.Unterdeß grüße ich Sie alle 3
herzlich Ihr
Freud