• S.

    PROF. DR. FREUD 
    WIEN, IX., BERGGASSE 19. 
    Haus Schneewinkel

    19. 6. 1929

    Liebe Ruth

    Schon lange hat mir niemand so 
    sehr geschmeichelt wie jetzt Sie, indem 
    Sie mich nach meiner Meinung über 
    Til’s angebliche Schwierigkeit fragen. 
    Angeborene Bescheidenheit zwingt 
    mich zu bekennen, daß ich gar nichts 
    daran verstehe.  Ich kann blos die 
    laienhafte Vermutung äußern, daß 
    jedes Menschenkind seine mitge-
    brachte Konstitution frühzeitig in 
    einigen Besonderheiten äußert, 
    vor denen sich die bereits vorfind-
    liche Mitwelt respektvoll zu ver-
    beugen hat. Til’s rasche Sättigung 
    und Langsamkeit im Trinken mag 
    mit ihrer unzweifelhaft voreiligen 
    geistigen Entwicklung im Zusam̄en-
    hang stehen. Ratsam, nichts zu thun, 
    was diese noch beschleunigen kann. 
    Ihr Aussehen auf den eben ange-
    langten Bildern ist übrigens be-
    ruhigend solid, gar nicht aetherisch.

    Seit gestern abends sind wir hier. 
    Es ist wie im Märchen. Auf einer großen 
    Wiese zwei Häuser, eingeschlossen 
    von einem duften Wald, darüber 
    Bergaussicht – Watzmann, Hoher Göll
    kein Laut von außen zu hören, 
    im Wald ein murmelnder Bach und 
    ein Weiher, ein lange gewund-
    ener Weg durch den Wald für’s

  • S.

    Auto und doch nur 11 Minuten Fahrt zum 
    Hauptplatz in Berchtesgaden. Ich lebe 
    in zwei Parterrezim̄ern, so groß-
    artig und bequem wie eigentlich noch 
    nie vorher.  Meine arme Frau wäre 
    selig, wenn sie nicht mit ihren vom 
    Sommerregen geplagten Händen 
    noch soviel an der inneren Ord-
    nung schaffen müßte. Im zweiten 
    Haus, 5 Schritte entfernt, wohnen 
    Burlingham’s, es ist eine vollkom̄ene, 
    herzlich gern angenom̄ene Symbiose. 
    Unserem Enthusiasmus kommt das schöne 
    Sommerwetter entgegen. Lun und 
    Wolf rasen auf dem Grundstück 
    herum, bis sie sich erschöpft zur 
    Ruhe legen müßen. Wolf ist 
    gestern bereits von der Veranda 
    des Stocks heruntergesprungen 
    u hat sich eine Pfote verletzt. 
    Er tobt jetzt auf dreien. Hoffen wir, 
    daß er bald heilen wird.

    Ich würde mich nicht wundern, wenn 
    Sie infolge dieser Schilderung Ihre 
    Schiffskarten umtauschen sollten. 
    Bis dahin mit herzlichen Grüßen 
    für Sie und Vater Mark 
    Ihr 
    Freud