• S.

    PROF. DR. FREUD  WIEN, IX., BERGGASSE 19.
    Tegel 9. 6. 1930

    Liebe Ruth

    Ihr Expreßbrief eben angekommen, be-
    eile mich Ihnen zu antworten! Ich 
    bin mit Ihrer und Schur’s Erklärung 
    sehr einverstanden u meine auch, wenn 
    es nichts anderes ist, ist es das. Ich mache 
    mich auch auf eine unbestimmbar lange 
    Zeit der Abstinenz gefaßt u bin ent-
    sprechend misvergnügt.  Die Zigarre 
    (besser der Plural) fehlt mir jetzt weit 
    mehr als in den ersten Wochen.

    Sie werden aber weniger Wert 
    auf meine subjektive Meinung 
    als auf meine objektiven Angaben 
    legen. Die werden nun recht arm-
    selig sein. Die neuen Anfälle 
    sind nicht sehr imposant, scheinen mir 
    etwas anderen Charakter zu 
    haben. Keine Spur von Schwächegefül 
    oder Atemnot, auch diesmal mehr 
    Schmerzen an der Brustwand links, 
    Sensationen im linken Bein (nie 
    Arm), deutlicher tachykardisch, die 
    Pulsstörungen seltener, machen mir 
    nicht den Eindruck von einfachen 
    Extrasystolen. Der Druck in der Magen-
    gegend, der durch Aufstoßen behoben 
    wird, ist jetzt wie früher das zentrale 
    Phänomen. Vielleicht kom̄en die 
    Modifikationen bereits vom Einfluß 
    des Alkoholismus, dem ich jetzt 
    verfallen bin, da ich Mittags wie 
    Abends ½  Glas Chianti u dgl 
    trinke, nachdem ich gewiß zehn 
    Jahre lang nicht einen Tropfen 
    einer ähnlichen Flüssigkeit zu mir 
    genommen.

  • S.

    In der Woche seit der Rückkehr von Hiddensee 
    sind die Beschwerden allmälich bis zur Un-
    kenntlichkeit zurückgegangen. Gestern 
    war wiederum ein schwacher, aber deutlicher 
    Anfall. Veranlassung nicht ersichtlich.

    – Der nächste Punkt: Mit der Sommer-
    wohnung steht es schlecht. Hiddensee ist 
    nichts, Reichenau z. Glück auch nicht, an 
    den bairischen Seen ist nichts zu holen, 
    wenn nicht einer auf mehrere Tage 
    hinfährt, was ich meiner Frau nicht 
    mehr recht zumuten kann. Kurz ich 
    weiß ich nichts.

    Das Dritte: Die Prothese macht Fort-
    schritte, ich habe sie schon halbe Tage 
    lang getragen, kann mit ihr kauen 
    und trinken, noch nicht ordentlich 
    sprechen. Schr. meint noch eine Woche, 
    ich schließe also, daß wir heute in 
    zwei Wochen abreisen werden.

    Bei Ihnen wünsche ich, daß die 
    sog. Gallengeschichten zu Ende ge-
    kom̄en wären. Haben Sie gehört, was 
    bei Liebman passirt ist?  Lassen Sie es 
    sich von Dr Steiner erzälen. Es scheint, 
    daß man mit sehr späten Konsequenzen 
    von anscheinend geglückten Appendix-
    operationen auch zu rechnen hat.  
    Seither quält mich der Gedanke, es 
    könnte bei Ihnen oder bei Anna 
    etwas ähnliches sein.

    Mit herzl Grüßen für Mark 
    und Til 
    Ihr 
    Freud