• S.

    PROF. SIGM. FREUD 
    20 MAREFIELD GARDENS.
    LONDON. N.W.3.
    TEL: HAMPSTEAD 2002.

    4. XI. 1938

    Meine liebe Ruth

    Wenn ich jedesmal ein Wort nieder-
    schreibe, sooft ich an Sie denke, müßten 
    Sie mehrere Briefe wöchentlich von 
    mir erhalten. Aber Gedanken hilft 
    wenig, sagt die Erfahrung, nachdem man 
    von der Allmacht der Gedanken 
    ausgegangen ist.

    Das stinkreiche Sterben von Menschen, die 
    man liebt oder an die man gebunden 
    ist, bleibt eine abscheuliche Sache. Was für 
    Segen ist doch ein plötzlicher Tod! Sogar 
    ein vorzeitiger. Sie sind jetzt wirklich 
    in einer schweren Leistung. Aber ich 
    will Sie ja eher für eine Weile 
    ablenken durch Nachrichten von uns.

    Tante Minna erholt sich langsam 
    aus ihrem schweren Zustand, der objektive 
    Befund dahinter bleibt nach ärztlicher 
    Aussage bedenklich.  Sie macht
     etwas Bewegung auf ihrem Stockwerk, aber 
    sie war noch nicht unten bei mir 
    oder oben bei Anna. Sie hat die 
    zwei trained nurses aufgegeben und 
    kom̄t mit einer ständigen Pflegerin 
    aus.

    Die mir versprochene Wiederherstellung 
    geht nur langsam vor sich. Zwei Monate 
    nach der Operation habe ich noch nicht 
    den vollen Gebrauch meiner Mund-
    werkzeuge u bin in allen Funktionen 
    gestört. Ein Knochenstück soll sich noch 
    abstoßen, ein kleiner Abszess darum 
    macht Schmerzen. Das beständige kleine 
    Leiden wirkt lähmend u verstim̄end.

  • S.

    Ich arbeite zwei Stunden täglich mit den mit-
    gebrachten Patienten, die Zehnmillionen‑
    Stadt hat keinen neuen gebracht. Auch An̄a
    die fast voll beschäftigt ist, hat kaum 
    einen neuen Fall. Sie hält jetzt Vor-
    träge für Lehrer englisch und es scheint 
    ihr wieder zu gelingen. Daß es die 
    besten Frauen sind, von denen man 
    nicht zu sprechen braucht, bestätigt 
    sich wieder an meiner Frau, Robert 
    u Math sind in ihrer eigenen kleinen 
    Wohnung sehr zufrieden, ihr Geschäft 
    entwickelt sich günstig.

    Der Moses ist nach mehreren Ländern 
    verkauft und wartet dort auf seine 
    Übersetzung. Die englische Ausgabe, von 
    der auch die amerik. abhängt, wird 
    leider von Jones verzögert, deßen 
    Benehmen jetzt keineswegs freundlich 
    ist. Seine Liebenswürdigkeit hat sich offen-
    bar erschöpft und jetzt kom̄t die andere 
    Seite zum Vorschein.

    Marie war einige Tage hier mit Tochter u 
    Schwiegersohn, sie herzlich u teilnahms-
    voll wie im̄er, Eugenie blühend, er 
    wahrscheinlich ein unbedeutender 
    junger Mann. Sie will Anfangs Dez. 
    wiederkom̄en vor einer Reise nach 
    Griechenland u Aegypten, diesmal hat 
    sie mir eine reizende Venus in 
    Bronce mitgebracht.  Die Sam̄lung hat 
    sonst auf Zuwachs nicht zu rechnen.

    Ist der Bericht nicht ausführlich 
    genug? Ich wollte, Sie hätten mir 
    bald Gutes zu berichten.

    Herzlich Ihr
    Freud