• S.

    Berlin, 3.12.22

    Liebe Freunde,

    Dieser Brief sollte eigentlich am 1.12. geschrieben sein. Durch  
    Überlastung mit andern Arbeiten komme ich erst heute dazu. Aber die  
    Verzögerung ermöglicht es mir, auf Ihren gestern eingetroffenen Brief,  
    l. Herr Professor, zu antworten. Ich bedauere nur, daß mein privates  
    Schreiben an Rank Ihnen noch nicht vorgelegen hatte. Wenn Sie es inzwi-  
    schen gesehen haben, so haben Sie darin sicher meine Bereitwilligkeit  
    erkannt, das Sachliche sachlich und das Persönliche konziliant zu be-  
    handeln. Jedenfalls enthebt es mich der Notwendigkeit einer nochmaligen  
    Erörterung des Herganges. Herzlich würde ich mich freuen, die Ange-  
    legenheit zwischen Dir, l. Otto, und mir durch den Briefwechsel beglichen  
    zu sehen. Wenn ich dagegen auf Ihr Schreiben, l. Herr Prof., genauer  
    eingehe, so will ich nicht verhehlen, zuvor zu sagen, daß Ihr Appell  
    seinen Eindruck auf mich, wie auf uns alle ausgeübt hat, und daß er  
    gewiß wie nichts Anderes dazu beitragen wird, das gute Einvernehmen  
    unter uns zu fördern. Wenn ich also im Folgenden einige Einwände er-
    hebe, so mögen Sie darüber nicht vergessen, daß die Übereinstimmung im  
    Wesentlichen dadurch nicht berührt wird. Ich halte eine tiefer grei-
    fende Meinungsverschiedenheit eigentlich für ausgeschlossen!  

    Sie finden einen Gegensatz zwischen meinen sonst gezeigten  
    Charaktereigenschaften und meinem Verhalten in dem vorliegenden Falle  
    und schließen auf eine fernere Quelle. Sie haben Recht; aber wo ist  
    die Quelle?  

    Seit Beginn unseres Rundbriefwechsels mußte ich öfter gegen vor-  
    schnelle Urteile und übereilte Bestimmungen Ranks protestieren. In  
    größerem Umfang war das in diesem Sommer nötig aus Anlaß der Kongreß-  
    Vorbereitungen. Ich habe die Erörterungen stets in versöhnlichem  
    Geiste geführt. In den Ferien und beim Kongreß trafen R. und ich  
    zusammen, und unser Einvernehmen war so gut wie nur denkbar. Kaum  
    aber hatte der Briefwechsel im Oktober wieder begonnen, so traten  
    wieder ähnliche Erscheinungen im Wiener Brief hervor, dieses Mal  
    gegenüber Jones. Gerade weil ich persönlich unbeteiligt war, erinnerte  
    ich im Brief vom 16.X. (oder 1.XI.) an unser allseitig gutes Einvernehmen  
    bei persönlichem Zusammensein und warnte vor Störungen durch unnötige  
    Schärfen in der Korrespondenz. Dieser Aufruf zur gegenseitigen Rück-  
    sichtnahme, der neue Reibungen verhüten sollte, wurde im folgenden  
    Wiener Brief leider nicht beachtet. Dieser führte vielmehr zu  
    den Erörterungen zwischen Rank und Jones resp. zwischen Rank & mir.  
    Das mußte mich peinlich berühren! Sie sehen jedenfalls, daß meine  
    „Reizbarkeit“ nicht gar so akut entstanden ist, sondern wirklich aus  
    älterer Quelle stammt. Mein Bedauern, daß die 2 Briefe von Ihnen,  
    l. Herr Prof., nicht unterzeichnet waren, bezog sich nicht auf den sach-  
    lichen Inhalt. Denn es erscheint mir ausgeschlossen, daß Rank etwas  
    an uns schreibt, womit Sie inhaltlich nicht einverstanden wären. Ich  
    hatte nur die Form im Auge. Und ich kann mich auch jetzt dem Eindruck  

  • S.

    nicht entziehen, daß Ihr Einfluß wohl zur Vermeidung mancher formaler  
    Schärfen hätte führen können. Das zeigt am besten Ihr Brief, der bei  
    aller Bestimmtheit doch ebenso sehr jede verletzende Schärfe ver-  
    meidet wie auch den lehrhaften Ton, den Rank nicht selten annimmt. Im  
    Übrigen ist zu sagen, daß jede im Wiener Brief enthaltene Meinungs-  
    äußerung eine andere Wirkung erhält, wenn Ihre Unterschrift uns zeigt,  
    daß Sie auch die Form der Mitteilung billigen.  

    Damit verlasse ich die Sache, soweit sie mich persönlich betrifft.  
    Als Com.-Mitglied muß ich noch ein paar Bemerkungen machen, die Sie  
    nach meiner festen Überzeugung so aufnehmen werden, wie sie  
    gemeint sind. Ohne irgendwie die sachlichen Ausstellungen, die Sie  
    Jones gegenüber zu machen haben, zu berühren, finds ich doch, daß Sie  
    ihm in zwei Beziehungen Unrecht tun.  

    Sie entgegnen Jones, es sei vollauf Zeit zu einem korrekten Ein-  
    spruch gegen die Verlegung des Verlages nach Berlin gewesen, und er  
    habe nur nicht die richtige Form gefunden. Ich muß einwenden, daß  
    Ranks Bericht bei uns allen den Eindruck erweckt hat, daß die Über-  
    siedlung im vollen Gange sei. U. a. wurde angekündigt, Storfer gehe  
    schon zum 1.12. nach Berlin, und wir mußten alle denken, daß in  
    Wien nur ein Zweigbüro bleibe. Bezeichnend für den allgemeinen Eindruck  
    ist wohl Ferenczis Erstaunen über die enorme Beweglichkeit des Insti-  
    tuts. Was gab es da noch zu protestieren? Und Sie selbst, l. Herr Prof.,  
    geben ja zu, daß Rank durch einen Mißgriff im Ausdruck ein Mißver-  
    ständnis erregt habe.  
    Der andre Punkt ist das Einspruchsrecht. Ich sehe nicht ein,  
    warum Sie, l. Herr Prof., sich gerade hier auf den formellen Standpunkt  
    stellen. Ich finde den juristisch vorhandenen Unterschied zwischen  
    Direktor des Verlages & Gesellschafter des Unternehmens nicht so wich-  
    tig, als daß ihm unser Prinzip des Meinungsaustausches zum Opfer ge-  
    bracht werden dürfte. Was ich ja auch in meinem Brief an Rank beklage, 
    ist die Verletzung des Prinzips, auf dem unser Comité ruht. Zugegeben, 
    daß Rank als Direktor des Verlages zu dem Schritt vollkommen befugt 
    war – aber wäre unserem gesamten Verhältnis nicht jede andere Form der 
    Ankündigung einer solchen Absicht angemessener gewesen als das „fait 
    accompli“? Mir scheint das Prinzip des freundschaftlichen Meinungs-
    austausches hier sowohl als in der Frage des Korrespondenzblattes 
    verletzt zu sein.  

    Der Idee einer vaterlosen Zusammenkunft, l. Herr Prof., stimme  
    ich unumwunden zu. Offensichtlich ist die Brüderhorde in Ihrer An-  
    wesenheit zu einig, nicht allerdings in der Feindschaft gegen den  
    Vater, sondern durch ein Gefühl der Verpflichtung, Ihnen zuliebe alle  
    Differenzen auszuschalten. Ein Zusammensein, wie Sie es anregen,  
    würde dem Ausgleich vortrefflich dienen. Allerdings muß ich an diese  
    meine Zustimmung eine Bedingung knüpfen: daß nämlich eine nachherige  
    Zusammenkunft mit Ihnen nicht ausgeschlossen würde!!  

    Das Obige ist nun durchweg meine persönliche Stellungnahme.  
    Sachs wird seine etwa abweichende Ansicht am Schluß des Briefes geben.  
    Bezüglich der Veränderung im Verlage müssen wir uns eines Ur-  
    teils enthalten und können nur den Wunsch aussprechen, daß der 
    Verlag durch die Übersiedlung nicht vom Regen in die Traufe kommen  
    möge. Denn wir wissen nichts über die wirtschaftliche Entwicklung  
    in der nächsten Zukunft. Vor allem sind wir im Unklaren, ob die Sache  
    in Berlin ohne Rank ebenso zu machen sein wird wie in Wien mit Rank!  
    Andererseits würden wir uns freuen, wenn Du, l. Otto, durch diese Ver-  
    änderung wieder mehr zu wissenschaftlicher Tätigkeit kämest.
     

  • S.

    Ich füge dem Wiener Exemplar dieses Briefes die Statuten bei,  
    die ich kürzlich von Jones erhielt, damit dort das Weitere geschehen  
    kann.  

    Mir ist als Zentralsekretär die Frage wichtig, ob & von wem  
    der Bericht über den Kongreß hergestellt wird. Ohne Zweifel gehört  
    die Berichterstattung noch zu Flügels Funktionen, denn mein Amt begann  
    ja erst mit dem Schluß des Kongresses. Aber da ich nicht um ein Auto-  
    referat ersucht worden bin, so zweifle ich, ob überhaupt etwas geschieht.  
    Du, l. Ernest, wirst darüber Auskunft geben können. Vielleicht liegt  
    auch den Zeitschriften schon ein Bericht vor?  

    Ausführlich muß ich über die Moskauer Angelegenheit berichten.  
    Ich hatte die Aufgabe, mit Ermakow in Verbindung zu treten. Als ich  
    das gerade tun wollte, machte mich Eitingon (um die Zeit seiner Ab-  
    reise von Berlin) darauf aufmerksam, es sei eine Anzahl von russischen  
    Gelehrten aus Moskau vertrieben & nach Berlin gekommen. Darunter be-  
    finde sich auch der Psychologe Prof. Iljin, der in einem Schreiben  
    Ermakows genannt war. Eitingon riet, zunächst Iljin über die jetzige  
    Lage in Moskau zu hören. Erst nach längerem Bemühen ist es mir ge-  
    lungen, I. zu ermitteln und eine Unterredung mit ihm zu haben. Ich  
    kenne ihn sehr genau, da ich ihn vor 10 Jahren analysiert habe. Er  
    steht natürlich politisch im Gegensatz zu den Bolschewisten, und daher  
    stehe ich seinen Meinungen skeptisch gegenüber. Dagegen habe ich Grund,  
    ihn in tatsächlichen Dingen für durchaus verläßlich zu halten. Er hat  
    mir nun ein recht ungünstiges Bild von der Moskauer psa. Vereinigung  
    entworfen. Der einzige psa. Unterrichtete sei Wulff. Ermakow sei nur  
    oberflächlich interessiert. Er sei um seiner Stellung willen genötigt,  
    mit der Regierung zu paktieren und trete deshalb für die Psa. ein, da  
    diese als allermodernste Wissenschaft in einem gewissen Ansehen stehe.  
    Die Sowjetregierung ihrerseits gebe sich das Ansehen, die moderne  
    Wissenschaft zu fördern und – zahle den Teilnehmern der Sitzungen  
    Geld! I., der Herrn Prof.’s Werke sehr genau kennt, urteilt über die  
    neuerdings in Rußland hergestellten Übersetzungen sehr abfällig. 
    Ermakow übersetze fehlerhaft, da er die Sache nicht verstehe. Er gab  
    mir sonderbare Beispiele dafür. Wulff verstehe zwar sehr gut den In-  
    halt, sei aber so wenig des Russischen mächtig, daß seine Übersetzungen  
    darunter litten. Von den anderen im Mitgliederverzeichnis genannten  
    Leuten sei niemand ernstlich Analytiker. Unter diesen Umständen habe  
    ich noch nicht nach M. geschrieben, sondern bitte zunächst noch um  
    Meinungsäußerungen darüber, besonders auch, ob man in irgend einer  
    Form Sicherheit verlangen kann oder soll, daß es sich wirklich um  
    eine Vereinigung handelt, die wissenschaftlichen Charakter trägt und  
    die Aufnahme in unsere Vereinigung verdient. Da ich nicht schreiben  
    möchte, ohne besonders Ihre Meinung, l. Herr Prof., und Deine, l. Ernest  
    gehört zu haben, so warte ich noch bis zum Eintreffen der Nachrichten.  

    Von Leipzig kam Nachricht, daß sich dort ein ganz kleiner Kreis  
    fester organisiert hat. Er umfaßt Frau Dr. Benedek (Mitglied bei uns)  
    Voitel und noch 2 andere Personen. Auf meinen Rat halten sie vorläufig  
    hauptsächlich Referate über Herrn Prof.’s Schriften. Außer diesen
     

  • S.

    wöchentlichen Sitzungen halten sie monatlich eine solche mit einer klei-  
    nen Anzahl von Gästen, aus denen sich der Kreis später vergrößern soll.  
    Erfreuliches ist aus unserer Vereinigung zu melden. Die Sitzungen  
    sind recht zufriedenstellend. Die Kurse sind gut besucht. Im Einführungs-  
    kurs habe ich ca. 90 Hörer, darunter eine Anzahl nicht Zahlender. Der  
    Kurs dehnt sich in zwei selbständigere Hälften, dieses Mal über den  
    ganzen Winter aus.  

    Von unserm Gast, Frl. Schott, erhielt ich einen hübschen Beitrag  
    zur „Kindersammlung“ über infantile Sex.-Theorien (etwa 2 Druckseiten). Soll er 
    etwa vorher in der Zeitschrift veröffentlicht werden? Dann könnte ich ihn 
    Dir, l. Otto, zusenden.  

    Ich hoffe mit der Durchsicht der Sammlung und dem Entwurf zur  
    Veröffentlichung bald fertig zu sein. Lampl will dann das Ganze zu Weih-  
    nachten mit nach Wien nehmen.  

    Noch einmal muß ich auf die Angelegenheit meiner früheren, jetzt  
    in Wien befindlichen Patientin, Mrs. Dr. Garley, zurückkommen. Ich war mit  
    Mrs. Rivières Bericht derzeit nicht sehr einverstanden, wollte aber die  
    Sache nicht aufbauschen, da der Brief mit beruhigenden Versicherungen  
    schloß. Wie ich jetzt erfahre, ist Frau G. jetzt „studying“ mit Frau 
    Hug-Hellmuth, also doch offenbar mit der Absicht späteren Praktizierens.  
    Ich schreibe dies nicht, um irgend ein Eingreifen in Wien zu veranlassen,  
    aber ich möchte Jones im Interesse der englischen Gruppe für später  
    darauf aufmerksam machen.  

    Bezüglich des Referierens für die Zeitschrift von Jelliffe möchte  
    ich mich auch auf den negativen Standpunkt stellen.  

    Dem ungarischen Kollegen Mosonyi, den Du, l. Sándor, zu mir schick-  
    test, habe ich geholfen, so gut es ging.  

    Um diesen Brief heiter ausklingen zu lassen, zum Schluß noch ein  
    paar lustige Begebnisse.  

    Mich suchte kürzlich ein süddeutscher Arzt auf, der sich für Psa 
    interessiert. Er war vorher bei Bonhoeffer (unser Ordinarius für  
    Psychiatrie) gewesen und hatte ihn auch gefragt, was er von der Psa hal-
    te, worauf B. ihm antwortete: „Ja, der Freud hat wohl sieben bis acht  
    gute Ideen gehabt, aber das ist alles, was ich zu seinen Gunsten sagen  
    kann!“ – Ich möchte anregen, eine Sammlung solcher Aussprüche anzule-  
    gen, damit sie späteren Zeiten erhalten bleiben.  

    Die andre Geschichte hat sich in der ersten Stunde meines Ein-  
    führungskurses ereignet. Da nicht Sitzplätze genug da waren, standen  
    Zuhörer an den Wänden. Als ich im Laufe des Vortrages zum ersten Mal auf  
    die Sexualtheorie kam und erklärte, mit ihrer ausführlichen Erörterung  
    beginnen zu wollen, erlosch das elektrische Licht. Als Ursache stellte  
    sich dann heraus, daß eine Hörerin an der Wand gestanden und ihre Hand  
    eine Weile am elektrischen Schalter gehabt hatte. Im Augenblick meiner  
    erwähnten Ankündigung drehte sie plötzlich das Licht aus. Eine neben  
    ihr stehende Hörerin, die den Vorgang beobachtete, griff schnell zu &  
    drehte das Licht wieder an. –  

    Möge dieser bisher längste aller Berliner Com.-Briefe bei  
    allen eine so gute Aufnahme finden, wie sie zum mindesten der Absicht  
    entspricht, in der er geschrieben wurde!

    Mit unsern besten Grüssen  
    Abraham, Sachs