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S.
Prof. Dr. Freud
Wien, IX. Berggasse 19.2.2.09
Lieber Herr Kollege
Ich hoffe Ihre Arbeit ist jetzt im
Hafen des Jahrbuches sicher. Vor e
Tagen ist mir mein Benehmen
in dieser Sache plötzlich als ganz
rationell verständlich geworden
u die irreführenden Gefühlsver-
brämungen sind davon abge-
fallen. Ich habe – anscheinend un-
vermittelt – eingesehen, daß ich
meine Technikarbeit nicht während
der Monate der Praxis fertig
machen kann, sondern sie auf den
Juli‑Aug verschieben muß. Dann
kann sie also erst in den zweiten
Band des Jahrb kom̄en, u im
ersten ist für Ihren Aufsatz
Raum geworden. Wahrscheinlich
besitze ich diese Einsicht schon
längere Zeit, u habe nur die Kon-
sequenz aus ihr früher erfahren
als deren Voraussetzung. -
S.
Kollege Stein war am Son̄tag bei mir
u hat mir sehr interessante Ein-
blicke in seine Vita sex. gegeben.
Er ist kein ungehem̄t Homosexuell
u sein jetziges Leiden ist eine rechte
Angsthysterie. Ich bin zu dem Entschluß
gekom̄en, Sie aufzufordern, eine
Analyse mit ihm zu machen, einerseits
um ihm zu helfen, anderseits aber,
um sich bei einer selten so günstig
wiederkehrenden Gelegenheit einen
dauernden Eindruck von der Genese
einer Homosex zu verschaffen. Gewiße
meiner Bedenken gegen diesen
Vorschlag sind durch die Überlegung,
daß Sie ein constitut. guter Mensch
sind u auch sonst uneigennützig
behandeln (was Sie nicht sollten)
zerstreut worden. Ich sprach auch
mit ihm darüber, aber er erklärte
erst Ihre Äußerung abwarten zu
wollen.Ich grüße Sie herzlich
Ihr FreudVon U.S. nichts neues.
Berggasse 19
Wien 1090
Austria
VII Erzsébet-kőrut 54
Budapest 1073
Hungary
http://data.onb.ac.at/rec/AC16207741 Autogr. 1053/2(1–12) HAN MAG