• S.

                                                             26.XI.12

    Prof. Dr. Freud                           Wien, IX. Berggasse 19.

     

    Lieber Freund

    Endlich kann ich Ihnen über das Konzil in München1 berichten. Aufs äußerste befriedigend, wie ich es nicht erwartet hätte. Ergebnis, die persönlichen wie die intellektuellen Bande halten auf Jahre hinaus fest, keine Rede von Trennung, Abfall u. dgl. Adler und Stekel sind in Wien fabrizierte Popanze.

     

         Es waren beisammen: außer mir Jung, Riklin, Seif, Abraham, Jones und Ophuijsen2 in Vertretung von Maeder. Sie behandelten unsere Sache mit einer fast übertriebenen Zuvorkommenheit. Jung wollte von vorneherein ein fait accompli gelten lassen und verlangte nur Ratschläge zu hören, wie man aus der Situation mit dem Verleger herauskäme. Ich lehnte ab und gab doch eine pragmatische Darstellung, die in den zwei Vorschlägen gipfelte, den offiziellen Charakter dem Zentralblatt zu entziehen und ihn dem neuen Organ zu verleihen. Am Ende wollte Jung die Beratung schließen, ohne daß mir darauf eine Antwort erteilt worden wäre, und als ich mahnte, äußerte er, er habe geglaubt, daß ich mich ihrer stillschweigenden Zustimmung sicher gefühlt hätte. Abraham gab im Laufe der Debatte über die praktischen Maßregeln die Anregung, der Präsident solle persönlich nach Wiesbaden fahren, um die Sache mit Bergmann zu erledigen, und Jung dankte für den Vorschlag, versprach, es Ende der Woche zu tun. Es ist alles in Ordnung, und die Freundlichkeit war, wenn auch gewiß absichtlich, doch sicher echt. Sobald die Sache bei Bergmann geordnet ist, rückt die Internationale Zeitschrift in alle Funktionen des Zentralblatts ein. Sowohl Redakteure als auch Verleger sind sympathisch aufgefaßt worden.

         Nun zu den persönlichen Hintergründen. Riklin hat mit Armen und Beinen herumgeschlagen, um sich gegen eine Angreifung Adlers zu verwahren. Seif war reizend liebenswürdig, er läßt Ihnen sagen, er habe einen Prostataabszeß, dessen organische Veranlassung viele (über vierzehn) Jahre zurückliegtA, jetzt zur Selbstbestrafung bekommen; ich erzählte ihm dann, es sei bei Ihnen etwas Ähnliches. Abraham kennen Sie ja als unerschütterlich getreu, Jones begleitete ihn zum Bahnhof, er kam strahlend zurück und schien ihn angeworben zu haben. Jones, der bald uns nicht getroffen hätte, weil ihm Jung in seinem Brief den 25. als Tag des Konzils genannt hatte3, ist äußerlich nicht zu erkennen, durch einen dichten schwarzen Voll‑ und Backenbart entstellt, aber sonst natürlich derselbe. Es war sehr erfreulich für mich.

     

         Nun zu Jung. Nach der Sitzung um 11 h machten wir den verabredeten Spaziergang zum Zweck der Aussprache. Ich fragte direkt, was er habe und was sein Pochen auf der +Geste von Kreuzlingen* bedeute. Nun kam er mit der Klage, ich sei zu seinen Feinden, Binsw[anger] und HäberlinB, gefahren und hätte es verhindert, daß er mich sähe, indem ich ihm von dem Besuch erst Mitteilung machte, als ich schon zurück war. +Was würden Sie sagen, wenn ich Ihnen nachträglich schriebe, ich sei in Wiener Neustadt gewesen?* Ich gab zu, daß das gemein von ihm wäre, aber es sei nicht mein Fall, ich hätte am Donnerstag abend vor Pfingsten ihm und Binsw[anger] gleichzeitig von meiner Reise geschrieben, so daß sie beide Samstag früh davon hätten wissen können. Samstag mittag kam ich in Konstanz an und wurde von B[inswanger] erwartet, also hätte er es um diese Zeit auch gewußt und kommen können, wenn er gewollt hätte. Nein, er habe meine Karte erst Montag früh bekommen, als es schon zu spät war (da ich Montag mittags abreiste). Ich blieb fest, da geschah etwas ganz Unglaubliches, Unerwartetes. Er sagte plötzlich kleinlaut: +Ich war Samstag und Sonntag abwesend, auf einer Segelpartie, und bin Montag früh zurückgekommen.* Nun war das Heft in meiner Hand, und ich habe es ordentlich genützt. Ich fragte ihn, ob es ihm nicht eingefallen sei, den Poststempel der Karte anzuschauen oder sich bei seiner Frau zu erkundigen, ehe er den Vorwurf gegen mich erhob, ich hätte ihn absichtlich zu spät verständigt? Was er einem Patienten vorhalten würde, der ihm seinen Argwohn nicht anders begründe? Er war absolut geschlagen, beschämt und gab dann alles zu[:] daß er schon lange gefürchtet, Intimität mit mir oder anderen schade seiner Selbständigkeit, und darum beschlossen, sich zurückzuziehen; daß er mich allerdings nach dem Vaterkomplex konstruiert und sich gefürchtet, was ich zu seinen Modifikationen, zu seiner besonderen Ausdrucksweise sagen würde; daß er gewiß unrecht gehabt, mißtrauisch zu sein; daß es ihn kränke, als Komplexnarr beurteilt zu werden, usw. Ich ersparte ihm gar nichts, sagte ihm gelassen, daß eine Freundschaft mit ihm nicht zu halten sei, daß er selbst die Intimität heraufbeschworen, die er dann so brutal abgebrochen; daß er mit dem Mann überhaupt nicht in Ordnung sei, nicht nur mit mir, sondern ebensowenig mit den anderen. Er stoße alle nach einiger Zeit ab. Alle, die jetzt bei mir sind, seien von ihm gekommen, weil er sie hinausgeworfen habe. Daß er sich auf die traurige Erfahrung mit Honegger berufe, erinnere mich an die Homosexuellen oder Antisemiten, die nach einer Enttäuschung beim Weib oder beim Juden manifest werden. Er benehme sich wie ein Betrunkener, der unablässig schreit: Glaubts aber ja nicht, daß ich besoffen bin, und stehe unter unzweideutiger neurotischer Reaktion. Ich hätte mich an dem einen Punkt in ihm getäuscht, indem ich ihn für einen geborenen Herrscher gehalten, der durch seine Autorität den anderen viel Irrtümer ersparen könne; das sei er nicht, selbst unreif und der Kontrolle bedürftig usw. Er widersprach überhaupt nicht mehr und gab alles zu. Ich meine, es tat ihm wohl. Wäre er einer, an dem Eindrücke haften, so würde ich an einen dauernden Umschwung glauben. Aber es ist ein Kern von Unaufrichtigkeit in seinem Wesen, der ihm gestatten wird, die Eindrücke wieder abzuspülen. Schon die Konstruktion mit der Kreuzlinger Geste trägt diesen Charakter. Ein anderer Beweis ist der: Er verschwor es hoch und teuer, schon im J[ahr] des Salzburger Kongresses, in einer plötzlichen [An‑]Wandlung, die dann vorüberging, über mich geschimpft zu haben. +Was die Leute alles erzählen; wenn ich glauben wollte, was man mir über Sie sagt!* Abends sprach ich dann Jones, der mich versicherte, daß er die betreffenden Reden Jungs selbst gehört habe.

     

         Jung verabschiedete sich um 5 h mit den Worten: +Sie werden mich ganz bei der Sache finden.* Wir blieben bis zu den Abschiedszeiten beisammen. Leider hatte ich keinen guten Tag. Von der Woche und einer schlaflosen Nacht im Waggon müde, bekam ich bei Tisch einen ähnlichen Angstanfall wie damals im Essighaus in Bremen, wollte aufstehen und wurde für einen Moment ohnmächtig.4 Ich erhob mich aber selbst und hatte noch einige Zeit Übligkeiten, abends löste es sich mit Kopfschmerz und Gähnen, ein Rudiment meiner Sommerzustände. Die Nacht nach Wien schlief ich vortrefflich und kam ganz wohl hier an. ‑

         Unsere Mappe füllt sich. Ich hoffe, Sie sind ganz gesund und sehen der nahenden Arbeit entgegen.

         Ich grüße Sie und Frau G. herzlich

                                                                  Ihr

                                                                Freud

     

     

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    A In der Handschrift: viele (über 14 J) zurückliegt.

    B In der Handschrift: Haeberlin.

     

         1    Die Konferenz der Obmänner der lokalen psychoanalytischen Vereinigungen am 24.11.1912 in München, bei der vereinbart worden war, Stekel das Zentralblatt zu überlassen und die Zeitschrift als offizielles Organ der Vereinigung zu gründen. Schilderungen des Treffens unter anderem bei Jones (II, S. 178f.), Clark (Freud, S. 370ff.), Gay (Freud, S. 233) und in Freud/Jung (editorische Bemerkung nach 327 J, Briefwechsel, S. 578f.).

         2    Johan H.W. van Ophuijsen (1882-1950), holländischer Psychiater, 1903-1913 am Burghölzli. Mitbegründer (1917) der Holländischen Vereinigung. Er emigrierte 1934 nach New York.

         3    Vgl. Jones, Associations, S. 221 und Jones II, S. 178.

         4    In diesem Restaurant hatten Freud, Ferenczi und Jung am Tag vor ihrer Abreise nach den Vereinigten Staaten zu Mittag gegessen. Freuds dortige Ohnmacht wurde als Reaktion auf Jungs Erzählungen über Moorleichen gedeutet oder darauf zurückgeführt, daß Freud und Ferenczi Jung überredet hatten, seine Abstinenz aufzugeben und mit ihnen ein Glas Wein zu trinken. -

    Den Vorfall in München hat Freud auch in Briefen an Jones, Binswanger und Jung (29.11.1912, Briefwechsel, S. 581) geschildert. In allen dreien sprach er davon, daß er im selben Saal des Parkhotels sechs und vier Jahre vorher ähnliche Anfälle gehabt habe. Jones erinnert sich, daß ihm Freud erzählt habe, "der endgültige Bruch mit Fließ habe in jenem gleichen Zimmer stattgefunden" (Jones I, S. 370). Schur (Freud, S. 316-325) gibt eine zusammenfassende Darstellung und Analyse von Freuds Ohnmachtsanfällen.