• S.

    3.3.12

    Prof. Dr. Freud                           Wien, IX. Berggasse 19.

     

    Lieber Freund

    Dank für Ihre Arbeit. Sie ist sofort in Gesellschaft meiner unterdes beendigten Ratschläge1 an Stekel geleitet worden. Ihre Empfindungen während des letzten Sonntags decken sich mit den meinigen. So wären wir endlich auf gleich gekommen. Das sonderbare Frühlingswetter läßt daran denken, daß in fünf Wochen Ostersonntag ist. Vielleicht machen wir das Projekt der kurzen Osterreise zur Wahrheit. Jung hat in seinem letzten Brief angedeutet, daß ich ihm wohl gram sein müsse, worauf ich in meiner Antwort etwas aus der Reserve herausgetreten bin und geschimpft habe.2 Es scheint mir doch wahr, daß er die Interessen der Vereinigung ziemlich vernachlässigt. Es ist nicht möglich, ein Korrespondenzblatt von der Zentrale zu bekommen, das in der Januarnummer wird das einzige in sechs Monaten bleiben. Die Gruppen erfahren nichts voneinander und isolieren sich so immer mehr. Im Zentralblatt und in der Imago tut er gar nicht mit. Das Jahrbuch ist bis jetzt um 3/4 Jahre verspätet.

     

         Es wird Ihnen auf keinen Fall gleichgiltig sein zu hören, daß bei Elma ein großer Ruck nach vorwärts erfolgt ist. Die ganze Zurückführung ihres zwanghaften Wesens auf die Enttäuschung durch den Vater, die Identifizierung mit ihm seither, die Rachsucht, das Bestreben, jetzt anderen das anzutun, was sie bei ihm erlitten hat, das alles ist von ihr mit Überzeugung erkannt worden. Seitdem spricht und benimmt sie sich auch anders. Jetzt handelt es sich noch um die Herkunft der Oberströmung, welche die Verdrängung besorgt hat, ohne selbst etwas Ordentliches zu leisten. Wahrscheinlich stammt diese seit der Pubertät und knüpft an das Vorbild der Mutter an, ist echt weiblich. Schema liefe etwa so:

     

                       Vater                    Mutter       Narz[ißmus]

     

     

    1. Objektliebe  weiblich gegen Vater   feindlich        narzißtisch

     

     

                        Enttäuschung, seither    mit Pubertät weiblich

     

     

                      männliche Einstellung   [COMMENT1] 

     

     

     

    Wir werden darauf zurückkommen.

                                                      Herzliche Grüße

                                                            Ihr Freud

     

         1    >Ratschläge für den Arzt bei der psychoanalytischen Behandlung< (Freud 1912e).

         2    Jung hatte vermutet, daß Freud ihm ob seiner Schreibfaulheit gram sei. Freud hatte geantwortet, daß er Jungs Briefe zwar "mit besonderer Ungeduld erwartet und besonders schnell beantwortet", nun aber diesen "Libidoüberschwang rasch abgetan" habe. Weiters hatte er kritisiert, "daß die Organisation jetzt nicht ordentlich funktioniert" (Freud/Jung, 29.2.1912, Briefwechsel, S. 540f.).

     [COMMENT1]Für den Druck: Vgl. die vollständige Version dieses Schemas in der Original-Transkription (inkl. der handschriftlich hinzugefügten Striche, Pfeile und Worte).