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S.
5.6.11
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Freund
Ich hatte mich gestern ausgeschlafen, und Ihre Absage war mir eine Enttäuschung. Jetzt halten Sie am nächsten Sonntag fest, an dem wir eine Menge Dinge besprechen wollen.
In Sachen Symbolik habe ich Ihnen jetzt schon eines entgegenzusetzen. Sie erklären, +warum die Kinder keine Symbole verstehen*; ich mache Sie darauf aufmerksam, daß die Kinder von vorneherein Symbole gebrauchen, wie z.B. der kleine Hans mit seinen Pferden und Wagen1. Das stimmt also nicht. Die Symbolik ist früher da als die Motive zu ihrer Verwendung. Ich sehe bis jetzt in dieser dunkeln Sache nur das eine (allerdings auch sehr dunkel): Die Symbolik scheint der Beginn der Begriffsbildung zu sein, die Begriffsbildung des undifferenzierten Ubw. Ich glaube selbst zu merken, daß sich das Kind bei dieser primitiven Abstraktion von Gemeinsamkeiten leiten läßt, die wir später zurückstellen, z.B. in ganz besonderer Weise von Bewegungseindrücken. Wir werden da lange beobachten und sammeln müssen.
Bei einem Holländer fand ich unlängst dieselbe (Frauen)‑ Zimmersymbolik wie im Deutschen, obwohl seine Sprache diese nicht kennt! Leider spreche ich nicht holländisch, aber er gut deutsch. Man müßte warten, bis man fremdsprachig behandeln kann. Auch bei Ihrem Zeichner im Fidibus2 besteht derselbe Zweifel. Stekels neue Sy[mbole] bestätige ich täglich, so heute die Zwillinge für die Hoden. (Sie trägt Zwillinge auf dem Arm, einer ist ihr heruntergerutscht, so daß sie fürchtet, er könnte fallen. Vgl. den Huttraum im Zentralblatt.3) Es ist die Patientin, in deren Geschichte alles darauf ankam, ob die Orchitis4 ihres Mannes ein‑ oder doppelseitig war.
Ich sage nochmals: auf Wiedersehen.
Herzlich Ihr
Freud
1 Nach Freuds Deutung war für den Kleinen Hans das "fallende Pferd ... der sterbende Vater" und "die Mutter in der Niederkunft" (Freud 1909b, S. 361), aufgeladene Wagen waren ihm "Storchkistenwagen" (ib., S. 316), also schwangere Frauen.
3 "Der Hut als Symbol des Mannes (des männlichen Genitales)", in: >Nachträge zur Traumdeutung< (1911a) (Zentralblatt, 1910-11, 1: S. 187); dieser Text wurde von Freud 1911 in die 3. Auflage der Traumdeutung (1900a, S. 365f.) aufgenommen.
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