• S.

                                                    Karlsbad 8.8.12.A

    Prof. Dr. Freud                            Wien, IX. Berggasse 19.

     

    Lieber Freund

    Ich habe längere Zeit nichts von Ihnen gehört.

         Nehmen Sie vor allem meinen Dank für Ihr Glückwunschtelegramm1 und richten Sie ihn jener auch von Ihnen hochgeschätzten Dame2 aus, die mir die direkte Antwort unmöglich zu machen pflegt und die dieses Mal so besonders ergreifend zu schreiben verstand.

         Unser Aufenthalt nähert sich dem Ende. Mittwoch, 14., reisen wir nach München ‑ Bozen; am 15. ist Familienzusammenkunft vor der Fahrt nach Karersee. Unser Befinden war hier vortrefflich, ich erwarte eine lang andauernde gute Wirkung. Korrespondenzen und Beantwortungen von Wünschen haben viel Zeit in Anspruch genommen. In den letzten Tagen läßt sich die Isolierung nicht mehr aufrechthalten. Gestern war Frau Dr. Stegmann da, heute wird Jekels erwartet.

         Ich konnte hier nichts anderes als den Beitrag zur Onaniedebatte3 fertig machen. Aus dem Buch von Robertson Smith über Religion of the Semites4 habe ich die besten Bestärkungen meiner Totemhypothesen gezogen.

     

         Von Jung hatte ich gestern Brief, der mir Antwort ermöglichte. Er schrieb von der Übernahme des Jahrbuchs durch Bleuler, solange er abwesend ist5, über das Buch von Rank6, an das er seine Inzestkritik knüpfte, und bemerkte, daß er auf dem nächsten Kongreß seine Präsidentschaft zur Diskussion stellen würde, damit dieser entscheide, ob +abweichende Meinungen* gestattet seien. Dazu die abermalige Versicherung, es fiele ihm nicht ein, den Vater in der Weise von Adler zu überwinden. Ich antwortete7 mit Fallenlassen der Freundschaftstitulaturen sachlich, es sei kein Kompliment für den Kongreß, wenn er das tue. Das Recht auf abweichende Meinungen sei selbstverständlich. Wenn die Abweichung so weit ginge wie bei Adler (Aufhebung des Ubw, [der] Verdrängung, [der] infantilen Sexualität), dann frage es sich allerdings, welchen Sinn es habe, unter derselben Flagge zu segeln. Nichts berechtige zur Annahme, daß seine Abänderungen eine solche Entfremdung von unseren Grundanschauungen involvierten, seine Worte seien direkt dagegen. Auch im Falle Adler sei die Lösung der Gemeinschaft nicht von mir, sondern von ihm ausgegangen. Das Problem, weshalb solche Abänderungen unter Affektstürmen und mit Einbuße an menschlichen Beziehungen entstehen müßten, behielten wir uns für später vor. Und dann wünschte ich ihm Glück zur Reise.

         Ich grüße Sie herzlich und erwarte Ihre Nachrichten

                                                            Ihr Freud

     

     

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    A Handschriftlich über die vorgedruckte Briefkopfzeile gesetzt.

     

         1    Zur Verlobung von Sophie Freud. Nicht erhalten.

         2    Gizella Pálos.

         3    Freuds >Schlußwort< (1912f) zu den Onanie-Diskussionen der Wiener Vereinigung.

         4    William Robertson Smith, Lectures on the Religion of the Semites, London 1889; von Freud für die letzte Abhandlung von Totem und Tabu (1912-13a) verwendet.

    Der Schotte Smith (1846-1894) gilt als Begründer der vergleichenden Religionssoziologie.

         5    Jung fuhr am 7. September nach New York, um an der von Jesuiten geleiteten Fordham University Vorlesungen zu halten und hatte Bleuler gebeten, während seiner Abwesenheit die Redaktion des zweiten Halbbands des Jahrbuchs zu übernehmen (Freud/Jung, 2.8.1912, Briefwechsel, S. 567). Jung nahm diese Vorlesungen zum Anlaß, seine von der Psychoanalyse Freuds abweichenden Anschauungen darzulegen.

         6    Das Inzest-Motiv in Dichtung und Sage.

         7    Dieser Brief Freuds fehlt in Freud/Jung, Briefwechsel.