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S.
2 Okt 12
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Freund
Die schönen Tage etc.1
Ich bin, kaum heimgekehrt, von der hier grassierenden Influenza befallen worden, die aber nur das Äußerliche des armen Konrad schädigen konnte. Ich bin fast komplett und tief in der Arbeit. Die Neurosen sehen genauso aus wie vor den Züricher Aufklärungen. Jones ist hier und wird Ihnen wahrscheinlich schreiben, um Sie über den Sonntag heraufzubeschwören.
Ich bin von zwei kleinen Ereignissen befallen worden, die als Omina Wert haben, eines davon ein wohl sicheres Zeichen des Erfolges. Kraus in Berlin bereitet ‑ was streng vertraulich ist ‑ eine neue Enzyklopädie der inneren Medizin vor und hat mir schon vor einiger Zeit Hysterie oder Zwang angeboten. Ich glaube, Ihnen schon davon erzählt zu haben. Ich antwortete damals: Nur beides, und legte nicht mehr viel Erwartung auf die Sache. Gestern erhielt ich den Kontrakt für beide Aufsätze, bis 1. April 1915.2 Damit ist die -A offiziell geworden, hochoffiziell. Es soll aber gegenwärtig nichts davon verlauten.
Das zweite Augurium ist eine Ansage der Frau Lou Salomé Andreas3, die auf Monate nach Wien kommen will, nur um -A zu lernen.
Jones hat mir die auf dem Züricher Kongreß verteilten Aufsätze von Bleuler, Maeder und Adler gebracht, die ich Ihnen einsende, um Rücksendung oder Mitbringen bittend. Drei bedauerliche Mißverständnisse und Verseichtigungen unserer -A. Maeder z.B. vergißt, daß der Traum für uns nur eine besondere Ausdrucksform ist, nimmt ihn im populären Sinn und schreibt ihm allerlei Funktionen zu, die natürlich den vorbewußten Tagesresten zugehören und somit nichts Neues oder Aufklärendes enthalten. Die einzige Funktion des Traumes bleibt die Behütung des Schlafes. Bleuler kommt nicht über die oberflächliche deskriptive Unterscheidung von Bw und Ubw hinaus. Adler ist bekannt genug.4
Mit diesem Eindruck hängt ein Kriegsplan von mir zusammen. Ich gedenke mich zur Wehre zu setzen. Der inneren Diskussion wollte ich ja nie ausweichen, und da Jung sich ohne Scheu des Jahrbuchs für seine Vertretung bedienen wird, [gedenke ich] das Zentralblatt zum Organ zu nehmen. Das Zentralblatt ist verpflichtet, alle Erscheinungen zu referieren, und hat diese Pflicht gegen das Jahrbuch bisher arg vernachlässigt. Ich will nun diese Kritiken selbst inspirieren, selbst schreiben kann ich sie doch nicht, und mir hier die Leute heraussuchen, vielleicht Reitler, Hitschmann, Tausk, die bereit sind, meine Ansichten zu zeichnen.5 Es soll kein Geheimnis sein, daß ich dahinterstecke. Auf Sie rechne ich aber als Generalstab bei diesem internen Feldzug. Sie brauche ich nicht zu inspirieren, frage also direkt an, ob Sie sich an diesen kritischen Referaten über das Jahrbuch beteiligen wollen. Wenn ja, werde ich dafür sorgen, daß Ihnen eine pars leonina6 vorbehalten bleibt.
Außer Stekel, der gnädig disponiert ist und im heute erschienenen Zentralblatt einiges Frappante, auch Unvorsichtiges dabei, mitteilt7, habe ich hier noch niemand gesehen. Meine Frau will Ende der Woche mit Sophie nach Hamburg. Oli denkt daran, die Technik in Berlin aufzusuchen, weiß aber noch nicht, ob er die Schwierigkeiten der hiesigen Studienordnung wird überwinden können. Ernst hat Venedig sehr genossen und will Italienisch lernen. Meine Älteste ist wieder ganz wohl, der böse Traum vergessen.8
Ich grüße Sie herzlich und hoffe von Ihnen zu hören, noch ehe Sie kommen.
Ihr getreuer
Freud
1 "Die schönen Tage in Aranjuez / Sind nun zu Ende." Anfangsworte des Schauspiels Don Carlos (1787) von Schiller.
2 Die Geschichte dieses Projekts, das dann nicht zustande kam, ist bei Jones (II, S. 295ff.) ausführlich beschrieben. Das Werk (Friedrich Kraus und Theodor Brugsch, Hg.,
Spezielle Pathologie und Therapie innerer Krankheiten, 11 Bände, Berlin und Wien 1919-1927) erschien dann nach dem Krieg ohne Beiträge von psychoanalytischer Seite.
3 Lou Andreas-Salomé (1861-1937), geboren in Petersburg, verheiratet mit dem Orientalisten Friedrich Carl Andreas (1846-1930). Sie war Schriftstellerin, Vorkämpferin für Frauenrechte und, später, Psychoanalytikerin in Göttingen; bekannt wurde sie aber vor allem durch ihre Freundschaften mit Friedrich Nietzsche und Rainer Maria Rilke.
Nachdem sie im September 1911 am Weimarer Kongreß teilgenommen hatte, entschloß sie sich, in Wien Psychoanalyse zu studieren. Ihre Aufzeichnungen darüber wurden 1958 veröffentlicht (In der Schule bei Freud, Tagebuch eines Jahres [1912/13], Nachdruck Frankfurt/M. 1983). Ihr Briefwechsel mit Freud erschien gekürzt 1966 (Frankfurt/M.).
4 Es geht um die III. Jahressitzung des Internationalen Vereines für Medizinische Psychologie und Psychotherapie am 8. und 9.9.1912 in Zürich. Den Vorsitz führte Bleuler; er selbst sprach über "Das Unbewußte", Adler "Über das organische Substrat der Psychoneurosen" und Maeder "Über die teleologischen Funktionen des Unbewußten". Maeder schrieb dabei den Träumen zwei Funktionen zu: die erste sei ihre kathartische Wirkung, die zweite, daß der Traum Lösungen versuche, die "Vorübungen zu Taten der Befreiung" seien. Weitere psychoanalytische Vorträge wurden von Maier, Jones und Seif gehalten. Kongreßberichte wurden von Riklin (Zentralblatt, 1912-13, 3: S. 119f.) und Seif (Zeitschrift, 1913, 1: S. 95-99) verfaßt.
5 Freud brachte einen entsprechenden Antrag eine Woche später auf der ordentlichen Generalversammlung der Wiener Vereinigung ein. Dem Referierkomitee gehörten dann Federn, Hitschmann, Reitler und Tausk an; Ferenczi wird in Ranks
Protokoll nicht erwähnt (Protokolle IV, S. 99). Siehe unten 327 F.
6 Lat., Löwenanteil. Nach der 260. Fabel Aesops, in der der Löwe nach einer gemeinsamen Jagd mit dem Esel und dem Fuchs sich die ganze Beute aneignet.
7 >Fortschritte der Traumdeutung< (Zentralblatt, 1912-13, 3: S. 154-158).
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