• S.

    2.2.13

    Prof. Dr. Freud                           Wien, IX. Berggasse 19.

     

    Lieber Freund

    Ihre Influenza, jetzt hoffentlich überwunden, hat wahrscheinlich nur den einen Sinn gehabt, mir einmal einen ganzen Brief von Frau G. zu verschaffen. Bei mir hätte sie jetzt gar keinen Sinn, ich setze mir also vor, mich der herrschenden Epidemie zu entziehen.

     

         Jungs Brief klingt etwas elegisch, vielleicht hat ihn seine Egeria1 bereits verlassen. Sie soll nach Amerika gehen, um die Tochter von Rockefeller2 nach Zürich zu bringen. Es ist natürlich eine Pose wie eine andere. Auch Brill schreibt, daß er sich jetzt freundlich um ihn bemüht. (Brill scheint die Obmannschaft seiner Gruppe nicht niedergelegt zu haben.3 Er hat jetzt Schwierigkeiten mit dem englischen Verleger, der eine Reihe von Träumen wegen Unanständigkeit des Materials auslassen will.4)

         Jungs Brief ist wahrscheinlich auch zur indirekten Mitteilung an mich bestimmt. Da Sie auf die Idee gekommen sind, mich an der Redaktion Ihrer Antwort zu beteiligen, werfe ich einige Sätze aufs Papier, die Sie verwenden wollen oder nicht. Ich bemerke noch, daß ich ihm Ihre Kritik seiner Arbeit angekündigt habe. Ich schrieb ihm dieser Tage geschäftlich und erhielt gestern sachliche Antwort. Er fragt auch an, ob 7./8. September als Kongreßdatum für München angemessen ist.5 Eine Bemerkung über ein[e] +schlechte Aufnahme* seiner Arbeit.

         Also meine Vorschläge.

     

         Sie wüßten, wie beschäftigt er sei. Aber der Eindruck, daß die Z[üricher] sich gar nicht um die Wiener Journale kümmern, er besonders nicht, sei doch leicht zu vermeiden. Irgendwelche Zeichen von Interesse willkommen ‑ glaubten ihm gerne, daß er keine Trennung wolle. Alle Anzeichen sind dafür, daß solche auch nicht von anderer Seite beabsichtigt werde. Sie wüßten, daß es F (mir) besonders daran läge zu zeigen, daß wissenschaftliche Differenzen im Rahmen der Organisation anstandslos vertragen werden, wo nicht das persönliche Benehmen wie bei St[ekel] und A[dler] es unmöglich mache. Sie bedauerten Abbruch der privaten Beziehungen zwischen F. und ihm, müßten es aber nach den erhaltenen Auskünften für[s] beste halten. Sie hätten von mir gehört, daß er jede persönliche Beziehung als störend für seine wissenschaftliche Freiheit erachte, er wiederhole dasselbe in seinem Brief. Da bliebe ja nichts anderes übrig. F. (ich) behaupte, er (J.) sei mit seinen Beziehungen zum Mann nicht in Ordnung. Sie müßten allerdings aus Ihrer Erfahrung gestehen, daß Sie keine besonderen Schwierigkeiten gefunden hätten, mit F. (mir) auszukommen. Sie enthielten sich gerne der Kritik, auf welcher Seite die größere Abnormität zu vermuten sei. Meinten, nach einer gewissen weiteren Entwicklung werde ein Zusammengehen wieder möglich sein.

         Ihre Kritik seiner Arbeit. Reserven wegen der erwarteten Vorlesungen in New York.6 Sie kennten die Schwierigkeiten einer theoretischen Entscheidung in Libidofrage. Hofften, irgendwelche Folgerungen betreffs des klinischen Materials würden die Parteinahme erleichtern. Wenn sich bei ihm in Technik der Analyse nichts ändere, dürfe es ja unentschiedene theoretische Streitfrage bleiben. Im anderen Falle bekäme man ja Gelegenheit zum Vergleichen und selbständig Urteilen.

         Sie wunderten sich, daß er sage, das Wesen des Traumes sei ihm so unklar. Ob er denn das Ubw. nicht mehr anerkenne oder die Verdrängung? Mit diesen beiden Momenten fänden Sie und andere sich im Traum leidlich zurecht. Das Symbol sei für uns alle noch rätselhaft, wahrscheinlich historisch zu verstehen, aus Denk‑ und Sprachentwicklung etc. etc.

                                  _____

     

    Ich freue mich über den ruhigen Sonntag nach den Anforderungen des vorigen. Für heute nachmittag habe ich mir nur Frau Lou Andreas‑Salomé eingeladen.7 Sobald ich die nächsten kleinen Geschäfte abgetan, gehe ich an den Totemismus. Hoffe Ihren Hahnemann bald zitieren zu können.8

     

         Jones ist gestern nach Canada abgereist. Es gab eine vorübergehende Verstimmung zwischen ihm und seiner Frau, bei der sich besonders die Frau reizend benommen hat.9 Ich bin jetzt mit meinen angenommenen Kindern überhaupt zufrieden.

         Unsere Zeitschrift gefällt allgemein. Ich will jetzt im nächsten Aufsatz die Frage der ersten Mitteilungen und den Mechanismus der Heilung behandeln.10

         Herzliche Grüße von uns allen und baldiges Wiedersehen!

                                                                  Ihr

                                                                Freud

     

    P.S. Wir wollen jetzt im Verein die Frage des Themas für das nächste Heft der Diskussionen entscheiden. Ich möchte die soziale Rolle der Neurosen vorschlagen.11 Qu'en dites‑vous?12

     

         1    Eine Nymphe; Geliebte und Ratgeberin des Königs Numa Pompilius, welcher seine Herrschaft ihrer Weisheit verdankte.

    Freuds ironische Bemerkung bezieht sich möglicherweise auf Frau Moltzer (siehe 359 F und Anm. 5).

         2    Edith Rockefeller-McCormick (1872-1932), Tochter des Gründers der Rockefeller-Dynastie und Frau von Harold Fowler McCormick (vgl. 121 F und Anm. 2). Sie wurde 1915 von Jung analysiert und gründete 1916 in Zürich den "Psychologischen Klub", ein Zentrum für Jungsche Psychologie.

         3    Noch vor der Gründung der American Psychoanalytic Association (APA) am 9.5.1911, die auf Betreiben von Jones erfolgt war, hatte Brill am 12.2.1911 die New York Psychoanalytical Society gegründet, die im Gegensatz zur APA nur Ärzte als Mitglieder aufnahm und sich nicht dieser, sondern direkt der IPV angliederte. Die Unabhängigkeit der beiden amerikanischen Vereinigungen war 1911 am Weimarer Kongreß bestätigt worden.

         4    Brill arbeitete gerade an der Übersetzung von Freuds Traumdeutung (1900a), die im Mai 1913 bei George Allen in London erschien (siehe 395 F).

         5    Der IV. Psychoanalytische Kongreß fand dann auch zu diesem Datum in München statt.

         6    Jungs New Yorker Vorlesungen, in denen er seinen abweichenden Libidobegriff vorgestellt hatte, erschienen auf deutsch unter dem Titel >Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie< 1913 im Jahrbuch (5, 1. Hälfte: S. 307-441).

         7    Lou Andreas-Salomé schilderte diesen Besuch in ihrem Tagebuch (In der Schule bei Freud, Frankfurt/M. 1983, S. 88‑90).

         8    Ferenczis Arbeit >Ein kleiner Hahnemann< erschien in der dritten Nummer der Zeitschrift (1913, 1: S. 240-246) und wurde von Freud in der letzten Abhandlung von Totem und Tabu (>Die infantile Wiederkehr des Totemismus<) ausführlich zitiert (1912-13a, S. 157-160 und 184).

         9    Jones hatte während Loe Kanns Analyse bei Freud mit deren Krankenschwester bzw. Begleiterin Lina geschlafen. Freud schrieb am 10.2.1913 an Jones, daß die Analyse aus dieser Episode auch einen Gewinn ziehen konnte und er Jones am Ende für "das gefährliche Experiment zu danken" haben werde (vgl. auch Brome, Jones, S. 86f.).

         10    Freuds Arbeit >Zur Einleitung der Behandlung< (>Weitere Ratschläge zur Technik der Psychoanalyse<, I) (1913c) wurde in zwei Teilen veröffentlicht; der erste erschien unter diesem Titel im Jänner-Heft der Zeitschrift (1913, 1: S. 1-10), der zweite, um die Formulierung "- Die Frage der ersten Mitteilungen - Die Dynamik der Heilung" ergänzt, im März (ib., S. 139-146).

         11    Freud bezieht sich auf die Schriftenreihe Diskussionen des Wiener Psychoanalytischen Vereins, hg. von der Vereinsleitung, die bei Bergmann in Wiesbaden veröffentlicht wurde und in der bereits Hefte über den Schülerselbstmord (1910) und die Onanie (1912) erschienen waren. Unter dem Titel "Gesellschaft und Neurose" wurden dann von Februar bis Mai 1913 vier Vorträge in der Wiener Vereinigung gehalten, die aber nicht gesondert publiziert wurden.

         12    Fr., was sagen Sie dazu?