• S.

    13.1.12

    Prof. Dr. Freud                           Wien, IX. Berggasse 19.

     

    Lieber Freund

    Ich kann mir denken, wie ängstlich Sie auf meine Nachrichten warten. Doch kann ich nicht viel mitteilen. Es ist bis jetzt [nichts], was zu ungünstigen Schlüssen berechtigen würde, auch nichts entscheidend Günstiges. Sie ist ziemlich gehemmt, will offenbar das brave Kind sein, gefallen, Zärtlichkeiten haben; fürchtet die Liebe zu verlieren, wenn sie etwas gesteht. Bewußt benimmt sie sich recht brav, aber die ubw Anteile kommen nicht recht heraus. Wir sind dabei, eine längst versunkene Vateranlehnung zu heben. Sie gehört zu den Kindern, die, in den ersten Jahren vom Vater sehr verwöhnt, den unvermeidlichen Nachlaß der Intimität seither als Zurücksetzung verspürt haben. Es scheint, daß alle ihre Einstellungen und Gelüste auf dieses Moment zurückgehen, so die Lust, sich nackt zu zeigen, die sexuelle Neugierde, Männliches zu sehen. Die Onanieentwöhnung der ersten Jahre ist bereits sichergestellt; das Schuldbewußtsein schließt an die widerrechtlich erworbenen Kenntnisse vom männlichen Genitale an. Daher ihr Verbergenmüssen, Eine‑Rolle‑spielen‑Müssen usw. Inwieweit das Steckenbleiben im Narzißmus und der Drang nach eigener Männlichkeit mit der Vaterfixierung zusammenhängt, kann ich noch nicht übersehen.

         Ich finde bis jetzt nichts, was nicht vor einer glücklichen Realität vergehen könnte. Allerdings ruht die Liebe zu Ihnen wesentlich auf der Einstellung zum Vater und der Konkurrenz mit der Mutter. Auf die Kunde von Ihren Beziehungen zur Mutter ist die Reaktion noch völlig ausgeblieben und könnte sich in der Ehe leicht als Rache für den Vater einstellen.

     

         Hübsch ist, daß sie die Neigung hat, die Worte für Ost und West in allen Sprachen außer der Ungarischen zu vergessen und zu verwechseln. Ihre nächste Sprache war französisch: Le lever et le coucher du soleil1. Die Sonne ist natürlich der Vater2, der sie wahrscheinlich morgens ins Bett genommen hat und dann vor ihr aufgestanden ist, mit dem sie abends zu Bett gehen möchte.

         Sie verliebt sich zwangsweise in Ärzte, d.h. Personen, die sie körperlich, jetzt seelisch, nackt sehen.

         Also abwarten, nicht ohne gute Erwartung.

         Herzlichst und mit Grüßen an die liebe Mutter

                                                                  Ihr

                                                                Freud

     

         1    Fr., Sonnenaufgang und -untergang.

         2    Freud hatte in der Schreber-Analyse (1911c[1910], S. 289ff.) und im Nachtrag dazu (1912a[1911], S. 317ff.) die Sonne als Vatersymbol beschrieben.