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                                                             5 Nov 11

    Prof. Dr. Freud                           Wien, IX. Berggasse 19.

     

    Lieber Freund

     

    Hier der Brief von Frau Jung zurück. Sie hat mir unterdes geschrieben, und ich habe ausführlich und zärtlich geantwortet, aber ohne die Sache eigentlich zu verstehen. Verständnis dämmert mir erst jetzt auf, seitdem als einziges Belastungsmaterial das Nichterwähnen der +Wandlungen* in den Vordergrund tritt. Da ich nun über dasselbe Thema arbeite, mag ich durch einige Eigenheiten, die mit den Wurzeln meines Arbeitens zusammenhängen, Mißtrauen erregt haben. Ich werde jedenfalls sehr sorgfältig die Zeichen des Alles-allein-finden-Wollens verdecken und abtreten, was sich läßt. Mein +Nachtrag*1, der in diesem Lichte verdächtig aussieht, ist vor der Ankunft des Jahrbuches2 in Klobenstein fertig gewesen. Ich berichte Ihnen mehr darüber, wenn die Antwort von E[mma] J[ung] angelangt ist. Jedenfalls liegen ihr Motive wie die Ihrigen ‑ mehr vom Vater wissen wollen ‑ recht ferne.

         Ich bin mit nichts hier jetzt sehr zufrieden, körperlich wie seelisch in jenem Zustand, der intensives inneres Arbeiten ‑ oder besser, die Vorbereitung dazu ‑ bei mir zu begleiten pflegt. Es ist eine Art von Elend; im Wohlsein bin ich selten produktiv. Ich lese, lese, und es gärt; ob ich zu etwas kommen werde, weiß ich nicht.

         Die Praxis hebt sich erst jetzt über das 2/3 Niveau. Dr. Spitz ist sehr interessant, die Verbrämung ist weg, und er benimmt sich ganz korrekt‑neurotisch mit starken Widerständen. Eine in letzter Zeit vielbesprochene +Gräfin*3 soll morgen in Behandlung treten. Die neue Zeitschrift wollen wir morgen mit Heller gründen. Es ist noch die einzige Chance. Stekel ist manchmal so ekelhaft banal, daß ich mühselig an meinem Entschluß ihm gegenüber festhalten muß.

         In der Welt nichts Neues, außer daß der Sekretär aus Sydney4 berichtet, die Mitteilungen von Jung, Ellis und mir seien mit +ungewöhnlichem* Beifall aufgenommen worden. Er schickte auch Sonderabdrucke.

                                               Ich grüße Sie herzlich

                                                            Ihr Freud

     

         1    >Nachtrag zu dem autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides)< (1912a[1911]), Freuds Kongreßvortrag in Weimar.

         2    3. Band, 1. Hälfte, August 1911, in dem der erste Teil von Jungs Arbeit erschienen war.

         3    Wahrscheinlich Claire Wallentin-Metternich; siehe 255 F und Anm. 3.

         4    Andrew Davidson, Sekretär des Australasian Medical Congress (siehe 204 F und Anm. 6).