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S.
Karlsbad 20.7.11.
Lieber Freund
Der tragische Brief, den Sie doch zu lesen wünschen, liegt in meiner Lade in Wien und kann Ihnen also erst im Oktober übergeben werden.
Ich erlebe hier zunächst ‑ wie in einer α Kur ‑ ein Hervortreten all meiner körperlichen Beschwerden, dabei eine tiefe Verstimmung mit interessanten Symptomen, die zu denken geben, aber noch keine Lösung verraten. Nur mein Herz hält sich brav. Zeitweilig konnte ich mit dem seligen Lazarus1 konkurrieren. Jetzt fängt es an, mir besser zu gehen. Auch einen Einfall habe ich wieder gehabt, der sich auf die Triebherkunft der Religion bezieht und den ich vielleicht ausarbeiten werde.2
Es hat mich sehr gefreut, Ihre Artikel3 endlich gedruckt zu sehen. Sie sollen jetzt, wo ich nicht mehr ohnmächtig bin, im Zentralblatt den Platz einnehmen, der Ihnen gebührt. Adler muß im nächsten Jahr mit kühler Unerbittlichkeit niedergehalten werden. Es wird für alle Teile wohltätig sein.
Platzmangel hat meine Leute auf dem Ritten zu einer kleinen Übersiedlung veranlaßt. Sie werden mich also im Hotel Klobenstein, nicht im Hoferhaus besuchen. Näheres erfahren Sie noch rechtzeitig.
Ich grüße Sie und Frau Gisela herzlich und wünsche Ihnen viel praktischen Erfolg bei der neuen Unternehmung mit Frl. Elma, fürchte freilich, daß es bis zu einem gewissen Punkt gut gehen wird und dann gar nicht. Opfern Sie nicht zuviel dabei von Ihren Geheimnissen aus zu großer Güte.
Herzlich Ihr
Freud
1 Biblische Figur, die nach ihrem Tod von Jesus wieder zum Leben erweckt worden war (Johannes 11, 1-44).
2 Wieder ein Hinweis auf die bevorstehende Arbeit an Totem und Tabu (siehe 221 F und Anm. 13).
3 Wohl >Über obszöne Worte< (1911, 75) und >Anatole France als Analytiker< (1911, 76), beide im Zentralblatt erschienen.
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S.
VII Erzsebét-kőrút 54
Budapest 1073
Hungary
http://data.onb.ac.at/rec/AC16607581 Autogr. 1053/10(1-12) HAN MAG