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S.
10.2.13.
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Um weitere +Übereinstimmungen*1 zu konstatieren, spreche ich aus, wie sehr mich Ihre Einschätzung der Neurasthenie angeheimelt hat. Ich habe immer gemeint, wie hinter den Paraphrenien die Ichpsychologie, so steckt hinter den Aktualneurosen die Sexualphysiologie. Ihre Aufklärung Ihrer Erkrankung dürfte ganz zutreffen, womit auch programmgemäß deren Ende erreicht sein muß.
Mit Übersetzungen machen Sie gefälligst, was Sie wollen.
Die Versuchung, nach Korfu mitzugehen, war stark, aber kurz. Abgesehen von dem Mißvergnügen zu dreien, ist heuer nicht die richtige Zeit, auf einige tausend Kronen wegen seiner elenden Gesundheit zu verzichten. Für Sie gilt das nicht, Sie sind jung und selbständig. Ich sehe die Notwendigkeit, mich auf die Analerotik2 zu beschränken, immer mehr ein und gedenke meine Primärfunktion, i.e. Geld zu verdienen, möglichst intensiv zu erfüllen. Eigentlich muß ich im Osterintervall auf kürzeste Zeit nach England ‑ hin über Holland, zurück über Hamburg ‑, um meinen 80jährigen Bruder zu besuchen. Ich mag aber auch daran nicht gerne denken, obwohl es mich nur wenige Tage über die obligatorischen Ferialtage kosten wird. Daß Sie vor Ihrer Urlaubsreise die beiden Aufsätze fertig machen wollen, ist sehr schön und recht.
Ich will nach diesem Brief die letzte Seite zum zweiten technischen Artikel3 schreiben, hoffe in dieser Art von Schmiererei bald bedeutende Routine gewonnen zu haben.
Kraus in Berlin hat unlängst, wie die Spielrein schreibt, in einer Vorlesung sehr energisch für unsere -A Partei genommen; das meiste anerkannt und die Gegner sehr beschimpft. +Warum sagen Sie das nicht (scilicet laut)?*4
Herzlichen Gruß von Ihrem
Freud
P.S. Halt! Von Ihrer Analyse denke ich nicht so, daß sieA Ihnen die Reise stören sollte. Ich will einiges Möbel im Zimmer behalten, nicht mit allem heizen müssen.5
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A In der Handschrift: Sie.
1 >Über einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker<: unter diesem Titel hatte Freud die in Totem und Tabu (1912-13a) versammelten Aufsätze ursprünglich veröffentlicht.
2 In >Charakter und Analerotik< (1908b) hatte Freud die Trias von Ordentlichkeit, Sparsamkeit und Eigensinn mit der Sublimierung bzw. "Aufzehrung [sic!] der Analerotik in Verbindung gebracht" (S. 204).
4 "So höre ich ... seit Jahren alltäglich Hunderte von Malen die Frage: *Warum sagen Sie's+ wobei die zur Ergänzung des Sinnes eigentlich erforderlichen Worte *nicht laut?+ weggelassen werden" (Daniel Paul Schreber, Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, Nachdruck Frankfurt/M. 1973, S. 104).
5 Am 5.6.1910 hatte Freud an Pfister geschrieben: "Die Diskretion ist ... mit einer guten Darstellung einer Psychoanalyse unvereinbar; man muß ein schlechter Kerl werden, sich hinaussetzen, preisgeben, verraten, sich benehmen wie ein Künstler, der für das Haushaltungsgeld der Frau Farben kauft oder mit den Möbeln für das Modell einheizt. Ohne ein solches Stück Verbrechertum gibt es keine richtige Leistung" (Briefwechsel, S. 36). Möglicherweise hatte er Ferenczi gegenüber einen ähnlichen Vergleich gebraucht und spielt hier darauf an.
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S.
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