-
S.
2 Jan 1912
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Mein lieber Freund
Wie bitter empfinde ich es, vielleicht scharfsichtiger und illusionsfreier zu sein als andere und recht behalten zu müssen. Als Ihr Expreßbrief ankam, dachte ich natürlich, er enthielte die Nachricht von Ihrer Verlobung, und rekapitulierte in mir die Vorsätze, jetzt keine Empfindlichkeit zu zeigen, wenn Sie über das reizende junge Weib den grämlichen alten Freund vernachlässigen, und abzuwarten, bis Sie beide mein Abraten vergessen haben. Dann las ich und weiß nicht, ob ich nun zufriedener sein soll. Sie sprechen von einem Umschwung in Ihnen selbst, als ob Ihnen die Schuppen von den Augen fielen. Ich weiß, daß ich nichts dazu getan habe und lieber grob unrecht behalten haben möchte.
Nun zur Behandlung! Fragen Sie nicht nach meinen Neigungen und Voraussichten, sondern verlangen von mir, daß ich es unternehme, so muß ich natürlich zusagen. Ich habe eigentlich keine Stunde frei; eine Patientin, die am 31. Dezember sich von ihrem Mann zum Austritt hat drängen lassen, will morgen wieder eintreten, und das war meine letzte freie Stunde. Ich könnte sie aufhalten, bis Sie sich entschieden haben, denn ich glaube nicht, daß die im ersten Moment getroffene Entscheidung die endgiltige ist. Denken Sie, unter wie ungünstigen Auspizien ich beginnen soll. Nach Entziehung der Prämie, die sie zur Genesung anspornen kann, mit dem Wissen, daß ich ihren Absichten nicht freundlich war, mit der dumpfen Rachsucht gegen Sie, der sie in diese Behandlung schickt! In dieser Laun' ist kaum ein Weib zu freien![1] Dazu, wenn es nicht gut geht, die stille Verstimmung zwischen uns oder wenigstens uns beiden und der edlen Frau, die Überflüssigkeit, daß ich so tief in Ihre eigensten Angelegenheiten spähen mußte, ohne dafür etwas geleistet zu haben. Ist der Versuch diesen Einsatz wert? Ich lasse es Ihnen zur Entscheidung, aber telegraphieren Sie mir, wenn Sie von der Absicht zurückgekommen sind. Es schmerzt mich, daß ich jetzt nicht bei Ihnen sein kann. Ich war die ganze Zeit über betrübt und betäubte mich durch Schreiben ‑ Schreiben ‑ Schreiben.
Herzlichst Ihr
Freud
[1] "Ward je in dieser Laun ein Weib gefreit? Ward je in dieser Laun ein Weib gewonnen? Ich will sie haben, doch nicht lang behalten" (Shakespeare, König Richard III, 1. Akt, Ende der 2. Szene; in der Übersetzung von Schlegel).
-
S.
Berggasse 19
Wien 1090
Austria
VII Erzsebét-kőrút 54
Budapest 1073
Hungary
http://data.onb.ac.at/rec/AC16572377 Autogr. 1053/12(1-13) HAN MAG