-
S.
Rundbrief vom 13. Mai 1925.
Liebe Freunde!
Auch dieser Monatsbericht wird dürftig ausfallen.
Dank der Generalversammlung der G.m.b.H. hatte ich das Vergnügen,
Ferenczi und Eitingon an meinem Geburtstage hier zu sehen. Sie werden
wohl keinen ungünstigen Eindruck von meinem Befinden bekommen haben,
doch hat mein Sprechvermögen erst seither eine hoffentlich blei-
bende Besserung erfahren. Immerhin war ich auch in diesem Monat nicht im
Stande, den Vereinssitzungen beizuwohnen.Die beiden Freunde haben auch Rank gesehen und konnten sich von
der Richtigkeit meiner Mitteilung überzeugen, dass er seine Hemmungen
gegenwärtig nicht überwunden hat. Es ist gerade jetzt schwierig, eine
Prognose über seine nächste Zukunft zu stellen.Gestern Abend war Keyserling von 9–12 abends bei mir, ohne dass
dieser Besuch einen bestimmten Zweck verfolgt zu haben scheint. Ich
empfing aber einen weit günstigeren Eindruck von ihm als das erste Mal
vor zwei Jahren, fand ihn natürlicher, interessant und geistreich. Ich
war, obschon in guter Laune, mitunter sehr aggressiv, machte ihm Vor-
würfe wegen der Dummheiten, die er über die Psychoanalyse schreibt,
und gestand ihm ein, dass seine Konversation mir ungleich verständ-
licher sei als seine gedruckte Philosophie. Er verteidigte sich diplo-
matisch, schien nichts übel zu nehmen, machte mir den Eindruck, dass
man von seinen Äusserungen Konsequenz nicht verlangen dürfe. Er
schwärmte sehr für Groddeck, den er allerdings auch übersah und erklärte
Hattingberg für einen der dümmsten Menschen, die er angetroffen.
Der Verlag hat endlich das vierte Heft der Imago und das
erste der neuen Zeitschrift herausgebracht und so begonnen, die seit
Ranks Amerikareise datierende Verspätung gutzumachen. Ich habe sowohl
-
S.
dem Redakteur der Zeitschrift als dem Verlagsleiter den dringenden
Wunsch ausgesprochen, daß künftighin die Quartaltermine unverbrüchlich
eingehalten werden. Der Verlag besitzt in Storfer eine tüchtige, eifrige
und verlässliche Kraft und kann auf eine schöne Reihe von Neuerschei-
nungen in dieser Saison hinweisen. Leider arbeitet er unter sehr
erschwerenden Bedingungen, hat kein Bargeld und muß hohe Zinsen für
die entlehnten Betriebskosten zahlen. Der Absatz dürfte sich in den
nächsten Monaten bessern. Auf welchem Weg eine ausgiebige Abhilfe zu
schaffen ist, weiss ich nicht anzugeben.Der dritte Band der Collection, der die von Stracheys übersetzten
Krankengeschichten enthält, ist zu meiner Freude jetzt erschienen und
macht einen vortrefflichen Eindruck. Ich möchte der ehemaligen Press
zu dieser Leistung gratulieren.In Beantwortung eines Briefes von Brill habe ich meinen Standpunkt,
daß die ausgebildeten Laien ärztlichen Analytikern gleichzustellen
sind, mit aller Entschiedenheit vertreten. Wir befinden uns in dieser
Hinsicht in vollem Gegensatz zur amerikanischen Gruppe und vielleicht
auch zu anderen Mitgliedern.Mit herzlichen Grüssen allerseits
Freud
Anna Freud