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S.
Wien, 1. November 1922
Liebe Freunde!
Zunächst bestätigen wir den Empfang der Briefe von Mitte Oktober und be-
dauern nur, daß die Nachrichten von Ferenczi so knapp waren; wir hoffen,
daß sein nächster Brief dafür umso ausführlicher sein wird.Hier macht sich die allgemeine und spezielle österreichische Wirtschafts-
krise neuerdings wieder stark bemerkbar. Der Zuzug von Patienten ist be-
deutend schwächer als sonst um diese Zeit und die Wiener Analytiker haben
im allgemeinen wenig zu tun. Noch schärfer ist diese Krise im Verlag bemerk-
bar, der besonders unter dem rapiden Marksturz zu leiden hat (Markkurs dzt.
etwa 17 K[ronen]). Wir können unter diesen Umständen mit dem deutschen Buch we-
niger denn je konkurrieren, sind im Gegenteil mit Rücksicht auf die hiesi-
gen Herstellungs- und Regieunkosten genötigt, unsere Bücherpreise fortwähr-
end weiter zu erhöhen, wodurch der Absatz eine empfindliche Stockung er-
fahren hat. Es ist dies natürlich, wie bereits bemerkt, nur eine Folge und
Teilerscheinung der allgemeinen Wirtschaftskrise hier, unter der die ganze
Industrie und Kaufmannschaft sehr leidet. Auf der anderen Seite kann der
Verlag seine Produktion natürlich nicht einstellen, höchstens einschrän-
ken. Und so entsteht mangels entsprechender Einkünfte aus dem Bücherverkauf
eine Geldknappheit, die ja vorübergehend zu ertragen wäre, wenn irgend eine
Aussicht auf Besserung der Verhältnisse bestünde. Dies scheint aber in ab-
sehbarer Zeit nicht der Fall zu sein. Im Gegenteil scheint uns auch eine
eventuelle Verlegung der Herstellung nach Deutschland – abgesehen von den
technischen Schwierigkeiten – nicht sehr hoffnungsvoll, weil ja für Deutsch-
land in absehbarer Zeit eine weitere Verschlechterung der Verhältnisse und
damit eine ähnliche Krise wie hier zu erwarten ist.Dazu hat sich wie vorauszusehen war, eine innere Krise gesellt, die mit
den ungeklärten Verhältnissen von Press und Verlag und mit der Stellung Hil-
lers zusammenhängt. Wir haben in dieser Angelegenheit gestern ein Memoran-
dum von Rickman und heute den Brief von Jones erhalten, hatten aber noch
keine Gelegenheit darüber zu sprechen und werden nächstens über diese An-
gelegenheit weiter berichten.Aus den s.z., und nachträglichen Schwierigkeiten mit der Press und dem
sonstigen Publikumszulauf möchten wir doch die Lehre ableiten, den Kongreß
nach unserer früheren Übung lieber in einer kleinen Stadt abzuhalten. Ü-
brigens erhielten wir dieser Tage einen Kongreßbericht, den Miss Barbara -
S.
Low in einer englischen Zeitung veröffentlicht hat.
Auf den angekündigten Besuch von Delgado freuen wir uns sehr und
möchten nur erwähnen, daß wir die Nachricht erhielten, er beabsichtige in
die Wiener Gruppe einzutreten, um als Mitglied der Vereinigung eine süd-
amerikanische Gruppe gründen zu können. – Bei dieser Gelegenheit auch die
Nachricht, daß Frau Dr. Spielrein beabsichtigt, von der Wiener Gruppe in die
Schweizer Gruppe überzutreten.Ad Berlin: Mit dem Mitgliedsbeitrag haben wir es hier ähnlich eingerich-
tet, wenngleich nur das „Zeitschriftenabonnement“ im Sinne der Buchhändlerver-
ordnung der Geldentwertung angepaßt wurde, während der Mitgliedsbeitrag
mit K 40.000,- pro Jahr festgesetzt und gleich eingehoben wurde. Der Zeit-
schriftenbeitrag wird davon gänzlich getrennt, vom Verlag direkt einge-
hoben.Die Nachrichten über Mrs. Garley sind an Mrs. Rivière weitergegeben
worden, die direkt privatim darauf antworten wird.Ad London: Was das Korrespondenzblatt betrifft, so sollen die Berichte
der einzelnen Gruppen natürlich bei Abraham einlaufen, der sie dann gesam-
melt der Redaktion übermitteln wird. Daneben müssen wir aber aus techni-
schen Gründen an dem bisherigen Modus festhalten, wonach jeder Sekretär
gleichzeitig je ein Duplikat seines Berichtes an die Redaktion der Zeit-
schrift und an Mrs. Rivière (zu Übersetzung) schickt, da wir sonst die Be-
richte nicht rechtzeitig in Zeitschrift und Journal hineinbekommen. Natür-
lich sollen sie vor Drucklegung mit dem offiziellen, von Abraham ge-
sandten Bericht verglichen und danach korrigiert werden. Das größte Ge-
wicht ist auf die einheitliche Form der Berichte zu legen. Die Aufforderung
an die einzelnen Gruppensekretäre zur Einsendung der Kopien an die deut-
sche und englische Redaktionsstelle haben wir im Einvernehmen mit Mrs. Ri-
vière direkt von hier aus veranlaßt, so daß dies als eine rein redak-
tionelle Abmachung erscheint, die sozusagen hinter dem Rücken des zentral-
sekretärs beschlossen wurde.Zur Drucklegung der internationalen Statuten erklärt sich der Verlag
bereit, wenn ihm das Manuskript hierzu fertig geliefert wird.An Bose hat der Professor bereits geschrieben, um ihn zur Zeichnung
als Mitherausgeber von Zeitschrift und Journal einzuladen.Was endlich Deine Nachrichten, lieber Ernest, in Bezug auf die Stimmung
in England anbelangt, so können wir, die wir all dies in irgend einer Form
schon durchgemacht haben, es nicht so schwer finden und hoffen, daß die Psy-
choanalyse diese Angriffe auch in England glücklich überstehen wird. – Was
die Arbeit von Dr. Suttie betrifft, und die Zweifel, die sie rege gemacht hat,
so würden wir auch diesen biologischen Neuentdeckungen gegenüber eine küh-
lere, abwartende Haltung einnehmen. Gedanken, die so richtig sind, wie das
biogenetische Grundgesetz, vertragen schon eine ganz tüchtige Dosis Kri-
tik, ohne daß man sie darum aufgeben müßte. Für die Psychoanalyse liegt
die Sache aber noch günstiger, da sie keineswegs auf diesem Gedanken
aufgebaut ist, wenngleich sie ihn in ausgiebigem Maße von der psychi-
schen Seite zu stützen vermag. Die Arbeit von Dr. Suttie selbst würde uns
nur dann näher interessieren, wenn sie sich direkt mit der Psychoanalyse beschäftigt.
Ist sie aber biologisch, dann genügt uns ein bloßes Referat.