• S.

    Rundbrief

    vom 15. Februar 1927

    Liebe Freunde!

    Am 10. d. Monats fand wieder ein Diskussionsabend bei mir statt, an
    dem Professor Schilder über Charakter und Charakteranalyse sprach. Wir
    haben alle den Eindruck bekommen, daß hier eine großartige Strecke
    Neuland sich vor uns eröffnet, das langsam mit analytischen Methoden er-
    schlossen werden sollte, und daß voreilige, von 
    der Oberfläche ausgehende Methoden streng zu vermeiden sind.

    Aus Amerika habe ich mehrere besorgte Anfragen, Ratschläge u. dgl.
    wegen einer neuen Operation an Zungenkrebs erhalten, über die die Zeitun-
    gen ausführlich zu berichten wußten. Die Quelle dieser Nachrichten
    ist mir unbekannt. Immerhin bleibt mir die Sache als einzige Form der
    Sympathieäußerung des Dollarlandes interessant.

    Pierce Clark hat von mir die Erlaubnis erhalten, „Hemmung, Angst
    und Symptom“ in seiner neuen Zeitschrift übersetzt abzudrucken und dann
    als Buch herauszubringen. Die Hogarth Press war mit meinem Vorgehen nicht
    einverstanden, ich habe es auch nicht gerne getan, hoffe aber, daß ich
    die Interessen der Press nicht sehr geschädigt habe, da sie eine Über-
    setzung nicht so bald zum Vorschein gebracht hätte.

    Ein wichtiges, aber durchaus unerfreuliches Ereignis ist das Ergebnis
    der Untersuchungen, welche Storfer über die Authentizität des Hug’schen
    „Tagebuches“ ausgeführt hat. Es wird allen bekannt sein, daß die ersten
    Zweifel vor Jahren von einem englischen Kritiker geäußert wurden. Frau
    Dr. Hug-Hellmuth hat in der Vorrede zur dritten Auflage diese Einwen-
    dungen in sehr entschiedener, auch etwas gereizter Weise abgewiesen, einige
    Auskünfte über die Verfasserin gegeben und die Versicherung wiederholt,
    daß sie außer Namen an dem Text des Tagebuches nichts geändert hat.
     

  • S.

    Nun sind im letzten Jahr neuerdings Zweifel geäußert worden und zwar von  
    einem Wiener Pädagogen Dr. Krug, der unter dem Einfluß einer erbitterten  
    Feindin der Analyse, der Frau unseres Psychologieprofessors Bühler, eine  
    Publikation in William Sterns Zeitschrift von sich gegeben hat. Stern  
    erzählte mir davon, als er mich im abgelaufenen Sommer auf dem Semmering  
    besuchte und ich versprach ihm, eine sorgfältige Untersuchung anstellen  
    zu lassen. Dieser Mühe hat sich Storfer in dem letzten Halbjahr unter-  
    zogen und folgendes ist das Resultat: Manche der Einwendungen Krugs,  
    welche Anachronismen aufdecken wollen, sind zu beseitigen, wenn man für  
    das Alter des halbwüchsigen Mädchens die richtigen Jahreszahlen einsetzt.  
    Manche, aber nicht alle. Andere bleiben rätselhaft. Außerdem hat  
    Storfer die verschiedensten Indizien dazu verwendet, um der Persönlich-  
    keit des Mädchens auf die Spur zu kommen und die Realität der im Tage-  
    buch erwähnten Begebenheiten nachzuweisen. Er hat dabei einen vollen  
    Mißerfolg gehabt. Die Durchsicht unserer Tageszeitungen aus den in be-  
    tracht kommenden Jahren hat keinerlei Agnoszierung ermöglicht, es gelang  
    ihm nicht, die Existenz der Schreiberin, ihrer Familie, der Schule, die  
    sie besucht hat, festzustellen und er erklärt es für sehr sonderbar, daß  
    noch keine der etwa gleichaltrigen heute in Wien lebenden Personen sich  
    zur Bestätigung der im Tagebuch erwähnten Verhältnisse und Begebenheiten  
    gemeldet hat. Eine Befragung Dr. Sadgers, welcher der nächste Freund der  
    Hug-Hellmuth war, ergab nur den einen betrübenden Aufschluß: die Hug  
    hatte mir bei der Übergabe ihres Manuskripts einen Brief der Verfasserin  
    vorgezeigt, welcher ihr die Erlaubnis zur literarischen Verwertung des  
    Tagebuches gab. Als Unterschrift las ich den Namen Anna v. Renner. Dr. Sadger  
    erklärt nun von der Hug zu wissen, daß der Name nicht der richtige war  
    und tatsächlich hat er den Nachforschungen Storfers zu nichts geführt.  
    All dies ist sehr dunkel, öffnet den verschiedensten Möglichkeiten Raum,  
    nötigt uns aber dazu, unsere Unsicherheit öffentlich einzugestehen. Das  
    Tagebuch kann nicht mehr als Quellenschrift geführt werden, der Verlag  
    wird es abstoßen und nicht weiter auflegen. So herzlich unbedeutend die  
    ganze Sache ist, so werden doch unsere Gegner möglichst viel aus ihr ma-  
    chen und der Eindruck einer Blamage ist nicht wegzuleugnen. Nehmt es  
    nicht zu schwer!  
    Mit herzlichen Grüßen  
    Freud
    Anna Freud