-
S.
vom 23.XI.1926
Liebe Freunde!
Mit heutigem Schreiben nehmen wir unsere Beteiligung an dem Rund-
briefverkehr wieder auf.Aus Anlaß einer Vorstandssitzung habe ich die Notwendigkeit ge-
merkt, den persönlichen Kontakt mit den Mitgliedern der Gruppe aufrecht
zu erhalten und habe versprochen, einmal im Monat (jeden zweiten Freitag
des Monats) eine Zusammenkunft in meinem Hause möglich zu machen. Außer
den Mitgliedern des Vorstands wurden alle älteren und irgendwie bedeu-
tsamen Mitglieder eingeladen und ein gewisser Bruchteil der jüngst Da-
zugekommenen. Der erste solche Abend fand am Freitag, 12. November statt
und dauerte über vier Stunden. Gegenstand der Besprechungen war eine
technische Neuerung von Dr. Reich, der es unternimmt, die Widerstands-
analyse in gewissem Sinne von der Stoffanalyse zu trennen, sie der letz-
teren vorauszuschicken und die Widerstände, wie er meint, schichtweise
abzubauen. Er fand wenig Zustimmung oder Aufmunterung, aber man versprach,
noch einmal auf seine Vorschläge zurückzukommen. Für den nächsten Abend
im Dezember ist ein Vortrag von Dr. Reik über die Stellung der nicht-
ärztlichen Anwendungen der Analyse vorausgese-
hen.Der eine von uns, ich brauche nicht zu sagen wer, ist mit einem
Kurs über die Technik der Kinderanalyse in die Reihe der vortragenden
Kräfte getreten. Diese Vorträge haben bisher viel Beifall gefunden und
wurden von vierzig bis fünfzig Personen besucht. Der Inhalt derselben
soll in den nächsten Monaten als selbständige Broschüre der Öffentlich-
keit übergeben werden.Unser Freund Ferenczi hat nach Ablauf der ersten Woche in Amerika
ausführlich über seine Beschäftigung und seine Eindrücke berichtet. Seither
-
S.
ist er verstummt. Wahrscheinlich hat ihn das amerikanische Leben in seine
Griffe bekommen und raubt ihm die Stunde, in der er uns mit seiner
Korrespondenz soviel Befriedigung bereiten könnte.Trotz meines Vorsatzes, Besucher nicht zu empfangen, kann ich es
doch nicht vermeiden, von Zeit zu Zeit Gäste bei mir zu sehen, die
manchmal der Mühe wert, manchmal ganz überflüssig sind. Heute
überreichte mir der Psychiater von Rio de Janeiro sein Handbuch der
Psychiatrie, in dem ein Kapitel von vierzig Seiten der Psychoanalyse
gewidmet ist. Er behauptete, daß sie in seiner Heimat die Analyse sehr
schätzen und auch therapeutisch üben. Wenn wir also in Europa durch-
gefallen sind, können wir uns nach Amerika flüchten, aber nach Südamerika,
das sich freundlicher gebärdet als die Vereinigten Staaten.
Eine Woche vorher hatte ich von einem Literaten aus San Paolo eine
Schrift über die Anwendung der Analyse auf die literarische Kritik er-
halten. Ich verstehe leider nicht portugiesisch, entdeckte aber im
Text mit Befriedigung alle uns vertrauten Probleme und Namen.Wir wollen am Schluß die Hoffnung aussprechen, daß die verschie-
denen Erkrankungen unter uns bald der völligen Genesung weichen werden.Herzlich
Freud
A Freud