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S.
Wien 22. Jänner 1922
Liebe Freunde!
Dieser Brief geht einen Tag verspätet ab, weil wir die Ankunft
Abrahams abgewartet haben, um mit ihm eine Rumpfkomiteesitzung abzuhalten. Abraham
wird heute und morgen je einen Vortrag halten und am Mittwoch unserer Sitzung
beiwohnen. Für den 30. hat Sachs seine Ankunft in Wien angezeigt; er kommt für etwa
zwei Wochen nach Wien und wird auch einen Vortrag bei der Gelegenheit absolvieren.
Vom Verlag wollen wir heute nur melden, daß wir ein Lokal gefunden
und bereits beangabt haben und hoffen, falls die Behörden keine Schwierigkeiten
machen, schon sehr [bald], vielleicht schon Anfang Februar, zu übersiedeln.Heute ist auch Hiller nach fast vierwöchiger Abwesenheit aus Lon-
don zurückgekommen und hat gute Nachrichten mitgebracht. Er hat noch keine
Details erzählt, doch möchten wir gleich jetzt schon an dieser Stelle Dir, l. Ernest
unseren herzlichen Dank für Deine Bemühungen aussprechen.Bezüglich der sonstigen Verlagsneuigkeiten verweisen wir auf den
Verlagsbericht, der in dem soeben erschienenen Heft 4 der Zeitschrift enthalten
ist. Von eingegangenen Manuskripten erwähnen wir ein neues Werk von
Groddeck: Das Buch vom Es. Psychoanalytische Briefe an eine Freundin; ferner einen
Imago-Aufsatz von Pfister zur Religionspsychologie.Ein italienischer Übersetzer für Totem und Tabu hat sich beim
Professor gemeldet. – Claparède sandte eine neues Buch über Flournoy (Verlag Kundig
Genf), in dem auch die Psychoanalyse zu ihrem Rechte kommt.Verein: In der nächsten Sitzung werden voraussichtlich Dozent Dr.
Deutsch (Wien) und Prof. M. Levi Bianchini als Mitglieder aufgenommen werden. Auch
Dr. Bychowski, der im Herbst v. J. aus Zürich hierher gekommen und hier analy-
siert wurde, bewirbt sich um die Mitgliedschaft; er will sich in Wien niederlassen.Die holländische Gruppe sandte ihren Jahresbericht, in dem bemerkens-
wert ist, daß von jetzt an auch Nichtärzte als außerordentliche Mitglieder auf-
genommen werden; das erste Mitglied dieser Art ist der vom Kongreß her bekannte
Dr. Varendonck in Gent, dessen Buch demnächst im Verlag erscheinen wird.Bewegung: Frau Sokolnicka sandte aus Paris eine Reihe von Artikeln,
die sich mit der Analyse in sympathischer Weise beschäftigen. Ein Artikel von
Jules Romains in der Nouvelle Revue Francais (T. XVIII.1922, No 1); ferner verschiede-
ne Aufsätze des Schriftstellers Lenormand, der viel Verständnis für die Psychoanalyse ver-
rät etc. (Es wird ein Bericht in die nächste Zeitschriftnummer kommen.)
Frau Sokolnicka veranstaltet Sitzungen, zu denen Schriftsteller wie Gide, Lenormand
, Rivière und andere kommen. Auch berichtet sie von dem besonderen persönlichen Interesse,
das Paul Bourget nimmt, der vom Professor in den Ausdrücken höchster Bewunderung
spricht. Aus Genf berichtet Frau Dr. Spielrein, daß sie einige gute wissen-
schaftliche Analysen gemacht habe und daß sie Vorträge und Kurse am Institut
J. J. Rousseau halte.
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S.
ad Berlin: Wir anerkennen das vorgebrachte Argument gegen die analytische Betät-
igung Homosexueller als richtig, möchten aber doch davor warnen, es zu einem Ge-
setz zu machen, mit Rücksicht auf die verschiedenen Typen von H[omosexuellen] und die verschie-
denartigen Mechanismen der Entstehung.ad London: Wir freuen uns, l. Ernest, Dir heute schon mitteilen zu können, daß wir
hoffen, sehr bald in der Lage zu sein, dem englischen Journal einige gute Original-
arbeiten zu verschaffen. Drei Patienten des Professors, Dr. Monroe Meyer, Dr. Gardi-
ner und Misses Strachey sind mit der Niederschrift von Beiträgen für das Journal
beschäftigt und wer- den die Beiträge vermutlich innerhalb einer Woche abliefern.
Auch Brill schreibt, daß er an einigen Beiträgen arbeitet, worin er nur durch die
Korrektur seines neuen Buches (?) aufgehalten sei. –Die Kurse in Wien, die Mitte Februar zu Ende gehen, nahmen einen sehr guten Verlauf,
mit dem beide Teile zufrieden sein können.Die Echtheit des Tagebuches wurde neuerdings wieder angezweifelt, und zwar
von Cyrill Burt in einem Ref. im Br. Journal of Ps[ychology]. – Die englischen Übersetzer
des Tagebuches haben sich darauf an uns gewendet und wir haben Frau Dr. Hug-Hellmuth ver-
anlaßt, in einem kleinen Artikel, der den Übersetzern eingeschickt wurde, ihr
Inkognito als Herausgeberin fallen zu lassen und für die Authentizität einzutre-
ten.Mit herzlichen Grüßen
[Rank / Freud]
[Handschriftlich Nachtrag:]
Die im Brief v. 21. angezeigten Ausschnitte fehlen!