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Wien, 3. Jänner 1923
Liebe Freunde!
Dieser Brief geht leider etwas verspätet ab, nicht
nur wegen der Feiertage an sich, sondern auch weil wir zu Weihnachten
den Besuch von Sachs und zu Neujahr Ferenczi in Wien hatten. –
Mit beiden haben wir uns über alle aktuellen Angelegenheiten eingehend
ausgesprochen und hoffen, daß dies die letzten etwa noch schwebenden Dif-
ferenzen zwischen uns beseitigen werde. –Im Übrigen ist von uns nicht viel neues zu berichten. Die 3
letzten Nummern unserer Zeitschrift sind noch im alten Jahr erschie-
nen, insbesondere aus der Zeitschrift ist alles mit-
teilenswerte über Bewegung, Literatur etc. zu entnehmen.Bezüglich der Aufnahme der Moskauer Gruppe rät der Professor
zur möglichsten Toleranz, und ich schließe mich dieser Auffassung mit
dem Hinweis auf das Beispiel der amerikanischen Gruppe an, deren Mit-
glieder wir erst jetzt allmählich in ihren didaktischen Analysen kennen-
lernen. Der Professor ist der Ansicht, daß die Russen, wenn wir
sie zurückweisen, leicht auf Abwege geraten könnten, während wir durch
ihren Anschluß doch einen gewissen Einfluß auf sie haben. –Eitingon scheint seinen Pariser Aufenthalt zur Anknüpfung von
wertvollen Beziehungen benutzt zu haben. Wie wir erfahren, hat sich auf
seine Anregung ein kleiner Kreis von Ärzten zu ständigen Zusammenkünften
vereinigt, an deren Spitze ein Doctor Lafourge (ein Elsässer, der
deutsch kann) steht, und zu dem auch unser Mitglied Sokolnicka Fühlung
zu bekommen suchen wird.Von Manuskripten ist eine kurze, aber recht gute Arbeit von
Fenichel über den Mißbrauch der Psa. zu philosophischen Spekulationen
(„Metaphysik“) eingelaufen und eine Dissertationsarbeit von Walter Lipp-
mann über die Heilung von Neurosen durch Psa., eine schwache Schülerar-
beit, die wir aber publizieren werden, weil es nicht einer gewissen
Pikanterie entbehrt, daß an der Universität Freiburg, an der Hoche lehrt,
psa. Dissertationen approbiert werden.Aus der Literatur ist noch erwähnenswert, daß in einem gros-
sen Handbuch der Psychologie, das jetzt in drei Bänden erschienen ist,
unter anderem der Traum von de Sanctis und die Sexualität
von Allers behandelt ist. In einem Referat der Münch. Med. Woch. ver-
urteilt Bleuler die Paralysearbeit von Ferenczi-Hollós in einigen Zeilen
von oben herab.In der ersten Dezemberwoche soll in München ein Kongreß
für die Individualpsychologie unter dem Vorsitz von Adler stattgefunden
haben.
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ad Budapest: ist nichts zu berichten, dagegen von Ferenczi, der an
diesem Rundbrief beteiligt ist, die Nachricht, daß Frau Radó, die
in Vertretung ihres abwesenden Mannes, die Sekretärsgeschäfte übernom-
men hatte, jetzt selbst erkrankt ist, so daß in der nächsten Sitzung
(6. Jänner) ein neuer provisorischer Sekretär gewählt werden soll.
ad Berlin: aus der letzten Nummer der Zeitschrift kannst Du, lieber
Karl, ersehen, was bis zuletzt vom Korrespondenzblatt eingelaufen
ist. Ich überlasse es jetzt vollkommen Dir, von nun an, das Korrespondenz-
blatt für die Zeitschrift fertigzustellen, und teile Dir zu diesem Zwecke
mit, daß das Manus[kript] für das nächste Korrespondenzblatt am 1. März in
meinen Händen sein muß, wenn es noch rechtzeitig in die nächste Zeit-
schriftennummer Aufnahme finden soll. Auf Deine Frage nach dem Kongreß-
bericht hat bereits Ernest geantwortet und ich füge dem nur noch hinzu,
daß von Dir kein Autoreferat Deines Vortrages abverlangt wurde, weil
ein solches bereits vorlag. –Lampl hat die Kindersammlung hier in Wien abgegeben und ich er-
warte Deine Vorschläge mit Interesse; wenn das Buch gedruckt werden kann,
möchte ich es vermeiden, die letzten Beiträge (z. B. Frl. Schott) vorher in
der Zschr. abzudrucken, die ohnehin mehr als überfüllt ist. (Dein Manus[kript]
lieber Karl, das für die vorige Nummer leider zu spät ankam, befindet
sich bereits in der Druckerei für die nächste Nummer.) Miss G. ist – wie
der Professor Dir sagen läßt – etwa zwei Wochen vor Mrs. Rivière von Wien
abgereist.Schließlich danke ich Dir noch bestens für Dein Bild, mit dem
aber auch ich mich nicht befreunden kann.
ad London: Was die Press betrifft, so erwarten wir jetzt von Dir,
lieber Ernest, die Entscheidung, die übrigens, wie Du ja wohl weißt,
sehr dringend ist, nicht nur wegen der Kontinuität des Journal, sondern
auch wegen der Geldfrage. Aus der Abrechnung zwischen Verlag und Press,
die Storfer mit Hiller gemeinsam in der ersten Dezemberhälfte
gemacht hat, und die Hiller mit nach London brachte, geht hervor, daß
die Press dem Verlag etwa 700 Pfund schuldet; davon sind ca. 600 £
alte, vom Verlag bereits ausgelegte, bzw. vorgestreckte Summen, während
ca. 100 £ noch unbezahlte Rechnungen für die Press hier vorliegen, welche
sich seitdem um weitere 30 £ vermehrt haben. Da nun unser Verlag sich
selbst in grösster Geldverlegenheit befindet und augenblicklich kaum seinen
eigenen Verpflichtungen nachkommen kann, habe ich Dir, lieber Ernest,
vor einigen Tagen telegraphisch mitgeteilt, daß die Press dringend Geld
in Wien braucht, um sich überhaupt solange erhalten zu können, bis Dei-
ne definitive Entscheidung getroffen ist. –Diese Abrechnung, welche das Verhältnis zwischen Press und Verlag von
Anfang an bis 31. Dezember 1922 umfaßt, und zum ersten Mal die wirkli-
che geschäftliche Separation schafft, wird wie wir hoffen, auch die letz-
ten Reste der von den Engländern festgehaltenen Meinung zerstreuen, daß -
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der Verlag, oder gar ich selbst, die Press ausnütze und daher behalten
wolle. Die Sache liegt eher vielmehr so, daß unter den gegebenen Um-
ständen die Press sich im Gegensatz zum deutschen Verlag als ein stark
passives Unternehmen herausgestellt hat, welches, ganz abgesehen von den
Schwierigkeiten in der Personalfrage, vom Verlag aufgegeben werden muß,
weil es dessen ganzen Gewinn auffrißt. Um wie viel mehr muß aber diese
Separation erfolgen, wenn außerdem noch von Seiten der Engländer ein-
gestandenermaßen ein gewisses Mißtrauen besteht. Um diesem, wenigstens
soweit es sich auf die materielle Seite bezieht, ein für alle Mal den
Boden zu entziehen, muß ich Dich, lieber Ernest, im Namen des Verlages
und als dessen Leiter dringend ersuchen, diejenigen Mitglieder der
englischen Gruppe, bei denen seinerzeit für den „Verlag“ Spenden ge-
sammelt wurden, über den Stand der Abrechnung genau zu informieren; und zwar
womöglich solange Hiller in London ist, da er über verschiedene,
vielleicht zweifelhafte oder unklare Punkte, Auskunft geben kann. (Die
entsprechenden Belege stehen selbstverständlich auf Wunsch zur Verfügung.)
Auch möchten wir Wert darauf legen, daß die Vorlage der Abrechnung unter
der gleichen Öffentlichkeit stattfindet, wie seinerzeit die Sammlung.
Die Situation ist die, daß in unsrer Abrechnung alles an Gold und Geld-
eswert erscheint, was der Verlag jemals von der Press bekommen hat, so
daß der Verlag den englischen Spendern gegenüber außer jedem Obligo
ist, und diese jetzt nur mit der Press zu tun haben.Anschließend an die Press-Frage will ich gleich über den Verlag
berichten, daß wir uns jetzt in der Produktion ziemlich einschränken müs-
sen, nachdem wir das Personal bereits entsprechend reduziert haben. Storfer
befindet sich in Berlin, um dort die Chancen für eine Wiederaufnahme der
Produktion unter möglichst günstigeren Bedingungen als hier zu untersuchen.
Sobald ich Näheres darüber weiß, berichte ich.Im Zusammenhang mit der Abrechnung der Press ist es uns jetzt
auch möglich geworden, zum ersten Mal eine eigentliche Bilanz aufzustellen,
aus der hervorgeht, daß der Verlag ein aktives Unternehmen ist: Er hat seit
seinem Bestand vom Fond im Ganzen die Summe von 2700 Pfund bekommen, wel-
chem Betrag Aktiven gegenüberstehen, die bedeutend höher sind: Deutsches
Bücherlager (mit einem Drittel des Verkaufspreises eingesetzt!). £ 2000,-
unbedrucktes Papier...................................................................................... £ 750,-
Press..................................................................................................................... £ 600,-
Büro, Einrichtung und Sonstiges........................................................ ca. £ 150,-
Sa. £ 3500,-Mit herzlichen Grüßen und Neujahrswünschen
[Freud/Rank/Ferenczi]