-
S.
17 Okt 12
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Freund
Ein negativer Beweis für die Gedankenübertragung. Vorgestern wollte ich Ihnen schreiben, da ich so lange nichts von Ihnen gehört hatte, zog aus dieser Intention den Schluß, daß Sie gerade mit einem Brief an mich beschäftigt seien, und schob meine Aktion auf, damit sich die Briefe nicht zu kreuzen brauchten. Die Voraussetzung erwies sich aber als falsch, wenigstens für oberflächliche Untersuchung.
Nun einige Nachrichten: Ich habe eine kleine technische Arbeit, Fortsetzung mit Berücksichtigung Ihrer Vorschläge, fürs Zentral[blatt] geschrieben1 und fünf weitere für diesen Jahrgang versprochen. Seitdem arbeite ich am Animismus (Allmacht)2 und bin wütend über Wundt3. Nach elfstündiger Arbeit abends diesen Quatsch lesen zu müssen ist eine harte Strafe.
Für Sonntag habe ich mir ein Referierkomitee eingeladen, bestehend aus Reitler, Hitschmann, Tausk und Federn. Daß Sie externes Mitglied desselben sind, habe ich bekanntgegeben. Ich werde die Referate über das letzte Jahrbuch nach genau einem Monat einfordern und bitte Sie zu diesem Termin auch um das lebenswichtigste Stück, das Referat über Jungs Libidoarbeit.4 Wir eröffnen also die Feindseligkeiten. Die Attacke ist die beste Parade.
Von Maeder ein langer Brief über unsere Differenzen, sehr freundlich, offen und anständig; gar kein Versuch, Jungs Benehmen zu beschönigen, sonst aber voll von schiefen Ansichten und deutlichen antisemitischen Regungen. Sie erhalten ihn, sobald er (am Sonntag) beantwortet ist; ich kann ihn nicht so lange auf Antwort warten lassen.
Stekel ist ein Schwein und erfindet unaufhörlich neue Stänkereien, Eifersüchteleien und Kränkungen. Die +Dichterträume*5 sind ein elender Schmarren; er will aber immer gelobt werden. Ein wackeres Buch von Marcinowski, das mit Würde um die Gunst des Publikums wirbt, ist gleichfalls erschienen (+Der Mut zu sich selbst*).6
Der letzte Mittwoch war nicht gut. Sachs hat sich mit seiner Methodik der Trieblehre sehr verhaut.7 Der Stimmung nach vergleiche ich mich eher mit dem historischen als dem von mir gedeuteten Michelangeloschen Moses.8
Zu Hause alles wohl. Arbeit bis über die Ohren. Ich grüße Sie und Frau G. herzlich
Ihr Freud
2 >Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken<; die dritte Abhandlung von Totem und Tabu (1912-13a).
3 Wilhelm Wundt (1832-1920), seit 1875 Professor für Philosophie in Leipzig, wo er das erste Institut für experimentelle Psychologie gründete (1879), in dem er Elemente und Gesetze des Bewußtseinsprozesses empirisch zu erforschen suchte. Wundt wird deswegen im deutschen Sprachraum oft als Vater der wissenschaftlichen Psychologie bezeichnet.
Freud bezieht sich auf ethnologische Arbeiten Wundts, die er für Totem und Tabu verwendete: Mythus und Religion, Teil II (Völkerpsychologie, Bd. 2), Leipzig 1906, und Elemente der Völkerpsychologie, Leipzig 1912.
4 Ferenczis Kritik (1913, 124) von Jungs >Wandlungen und Symbole der Libido< erschien dann in der Zeitschrift (1913, 1: S. 391-403).
5 Wilhelm Stekel, Die Träume der Dichter, Eine vergleichende Untersuchung der unbewußten Triebkräfte bei Dichtern, Neurotikern und Verbrechern, Wiesbaden 1912.
6 Jaroslaw Marcinowski, Der Mut zu sich selbst, Das Seelenleben des Nervösen und seine Heilung, Berlin 1912.
7 Hanns Sachs hatte am 16.10. "Zur Methodik der Trieblehre" referiert. Der Vortrag ist in den Protokollen nicht wiedergegeben, da er im Jahrbuch hätte erscheinen sollen, was dann aber nicht geschehen ist. In der Diskussion hatte Freud Sachsens Auffassung kritisiert, "daß die Triebe ihre Ambivalenz mit der Objektwahl erworben hätten" (Protokolle IV, S. 100).
8 Während seines Rom-Aufenthalts im September hatte Freud Michelangelos Moses-Statue täglich aufgesucht und den Plan gefaßt, eine Arbeit darüber zu schreiben, die er jedoch erst im Herbst 1913 begann (>Der Moses des Michelangelo< [1914b]).
Nach Freuds Darstellung war der historische Moses "jähzornig und Aufwallungen von Leidenschaft unterworfen",
während Michelangelos Moses "zum leiblichen Ausdrucksmittel für die höchste psychische Leistung [wird], die einem Menschen möglich ist, für das Niederringen der eigenen Leidenschaft zugunsten und im Auftrage einer Bestimmung, der man sich geweiht hat" (ib., S. 197f.).
-
S.
Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
VII Erzsebét-kőrút 54
Budapest 1073
Ungarn
http://data.onb.ac.at/rec/AC16572437 Autogr. 1053/14(1-8) HAN MAG