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S.
23.8.14.
Prof. Dr. Freud
Wien, IX. Berggasse 19.Lieber Freund
Ich habe Sie natürlich bereits für eingerückt gehalten und Sie gestern in einer Nachricht an den neutralen Emden als verschollen bezeichnet. Um so bereitwilliger nehme ich Ihr Anerbieten an, nach Wien zu kommen, wo Ihnen keine Zeitgrenze und Schonungsschranke gesetzt ist. Ich will ja vor dem 1. Oktober keinen Versuch zur Praxis machenA, der übrigens jetzt wie dann später rein +symbolisch* wäre. Zur Arbeit bringe ich es gar nicht. In der ersten Woche nach Karlsbad fing ich gut an, konnte 3 ‑ 4 Stunden auf Lesen und Überlegen verwenden, am Ende dieser Woche war es sehr wenig, und heute ist es eine Woche, daß ich nicht an die Wissenschaft gedacht habe. Es waren zu harte seelische Aufgaben zu erledigen, und hatte man eine Adaptierung vollzogen, so kam eine neue Anforderung, die einem den Gewinn an Gleichgewicht wegnahm. Ich merke nur, ich bin reizbarer geworden und verspreche mich den ganzen Tag ─ übrigens wie viele andere. Die von den Unserigen, die ich spreche, sind in ähnlicher Verfassung. Rank hat, um der Öde zu entgehen, es unternommen, meine Bibliothek zu katalogisieren, womit er morgen anfangen will, und ich habe eine ähnliche Spielerei ausgedacht, ich nehme meine Antiquitäten auf, studiere und beschreibe jedes Stück.
Der innere Vorgang ist der gewesen: Der Aufschwung der Begeisterung in Österreich hat mich zunächst mit fortgerissen. Anstelle des Wohlstandes und der internationalen Praxis, die nun für lange Zeit abgetan sind, hoffte ich ein lebensfähiges Vaterland zu bekommen, aus dem der Sturm des Krieges die ärgsten Miasmen weggeweht hätte und in dem die Kinder vertrauensvoll leben könnten. Ich habe wie viele andere plötzlich Libido für A[ustria]‑U[ungarn] mobilisiert, z.B. wie mein Bruder Alexander, der, inmitten des administrativen Getriebes stehend, mit Überraschung konstatieren konnte, was für Arbeitskraft und Entgegenkommen bei der jetzt an Anzahl verminderten Beamtenschaft zu finden war. Ich habe täglich die Aufregungen dieser Zeit mit ihm geteilt. Allmählich stellte sich ein Unbehagen ein, als die Strenge der Zensur und das Aufbauschen von kleinsten Erfolgen an die Geschichte von dem +Dätsch*1 erinnerten, der als moderner Mensch zu seiner orthodoxen Familie zurückkommt und sich von allen Verwandten bestaunen läßt, bis der alte Großvater den Auftrag gibt, ihn auszukleiden. Es findet sich dann hinter allen Schichten moderner Kleidung, daß er die Zipfel der Unterhose mit einem Hölzel zusammengeknüpft hat, weil die Bänder abgerissen sind, worauf der Großvater entscheidet, er sei doch kein +Dätsch*. Seit dem vorgestrigen Kommuniqué über den Stand in Serbien2 ist mir diese Überzeugung für A‑U. endgiltig gesichert, und ich erlebe die Vergärung meiner Libido in Wut, mit der nichts anzufangen ist. Real bleibt nur die Hoffnung, daß der hohe Verbündete3 uns heraushauen wird. Ich habe jetzt die Hoffnung, daß alles Interesse nach dieser Abschweifung doch wieder zu unserer Wissenschaft zurückkehren wird, und Ihr Besuch wird gewiß in dieser Richtung wirken.
Martin hat seinen Entschluß damit begründet, daß er die Gelegenheit nicht versäumen will, ohne Glaubenswechsel über die russische Grenze zu kommen.4 Ich bin nicht sehr glücklich darüber, daß es bisher nur Karrierenbruchstücke sind, die er produziert hat, aber ich verstehe seine Überlegungen und muß ihm schließlich recht geben. Er soll noch zwei Wochen in Salzburg zur Ausbildung bleiben, ehe er zur Ergänzung seines Regiments (Feldkanonen Nr. 41) abgeht. Von Annerl habe ich gestern endlich eine im Haag umadressierte Karte bekommen, aus der hervorgeht, daß sie einen Tag in London war bei Loe und Davy Jones5 und darauf nach St. Leonards zurückgefahren ist. Sie schreibt, Trottie habe sich sehr gefreut, sie wiederzusehen! Also sind Ihre pessimistischen Erwartungen nicht erfüllt. Davy Jones setzt die Worte hinzu: Your daughter ist frightfully brave, if you could see her, you would be extremely proud of her behaviour.6
Nach England wird man lange nach dem Krieg nicht gehen können, wer weiß, ob nach Italien? Deutschland wird ja auch unmöglich sein infolge des nicht unberechtigten Hochmuts der Deutschen.
Wir anderen sitzen im Hause beisammen und sparen, was eine ekelhafte ungewohnte Beschäftigung ist. Minna erholt sich von ihrer schweren Influenza langsam, aber jetzt doch deutlich.
Kommen Sie nur bald, und versuchen Sie, ob das Schiff schneller geht oder ein Telegramm.
Herzliche Grüße Ihr
Freud -
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Berggasse 19
Wien 1090
Österreich
VII Erzsebét-kőrút 54
Budapest 1073
Ungarn
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