• S.

                                                             30.5.12.

    Prof. Dr. Freud                           Wien, IX. Berggasse 19.

     

    Lieber Freund

    Ich glaube, Sie haben jetzt die einzig richtige Technik gefunden, und bin sehr froh darüber.

     

         Ich soll Ihnen also Nachrichten aus den übrigen Gebieten des menschlichen Interesses geben. Gut, ich war wirklich in Konstanz von Samstag mittag bis Montag mittag. Ich hatte Binswanger den Besuch lange versprochen, wurde empfangen wie der liebe Herrgott, sah auch Stockmayer1 und ein paar jüngere Ärzte, hatte eine feierliche Gesellschaft bei der Königin‑Witwe2, die auf Gut Brunegg ober Kreuzlingen thront, mitzumachen. Das nächste Gut, zehn Minuten höher, ist das von Zeppelin3. Arenenberg, wo der dritte Napoleon seine Jugend verbracht hat4, sah ich auf einem schönen, langen Autoausflug mit B[inswanger] und St[ockmayer] am Nachmittag des sich langsam aufhellenden Pfingstsonntags. Das Gelände um den See ist ein Garten, Konstanz liegt zauberhaft schön wirklich am Bodensee dort, wo der Rhein hinausfließt, der Hohentwiel, aus Ekkehard bekannt5, der Turm von Radolfzell6, die Insel Reichenau; es kommt da allerlei zusammen.

         Binswanger kennen Sie ja als hoch anständig, ernsthaft und ehrlich, er ist wenig begabt, weiß es und ist sehr bescheiden. Er las mir ein Stück einer Arbeit vor, in der die -A mit der klinischen Psychiatrie verglichen wird und die von guten Gesichtspunkten ausgeht. Wir sprachen auch von Jung, und er teilte mit, daß er, obwohl ihm als Schüler nahestehend, nie etwas von seiner persönlichen Zuneigung erwartet. Er sei kein Führer der Menschen, zieht die Männer stark an und stoße sie dann durch seine Kühle und Mangel an Rücksicht ab. Aber er sei auch nicht zu ersetzen.

     

         Mir haben die drei Tage trotz zweier Nächte auf der Bahn und beständiger Anspannung dort recht wohl getan. Von jetzt ab setze ich auch meine Arbeit etwas herab und stelle die Wissenschaft ganz ein. In München, wo ich von 10 ‑ 12 h nachts Aufenthalt hatte, habe ich noch den alten Hofrat Löwenfeld7 aus dem Schlaf geschreckt, mich aber eigentlich mehr mit der prächtigen Frau Babette gefreut. Als ich zurückkam, fand ich Anerbietungen von Patienten aus Bozen und aus Baku, und wenn diese kommen, kann ich etwas für Reitler8 tun, dem ich auch eine junge St. Petersburgerin aus meiner Praxis zur Fortsetzung überlassen kann. Ein vorgefundener Brief von Riklin hat einen peinlichen Eindruck gemacht. Er schreibt, infolge der letzten Zeitungskampagne9 hätten sie in der Stadt an Boden verloren, so daß er sehr wenig zu tun hätte und auch bei Jung habe es nachgelassen. Ich würde also gebeten, auch gelegentlich Patienten nach Zürich zu schicken. Ich brauchte wirklich den dreifachen Einfluß in der Welt, um für alle Notwendigkeiten zu sorgen. Unterdes bin ich in Wien mehr gemieden als je. Heller erzählt, daß er sich nicht getraut, die Imago in seinem Wiener Kreis zu empfehlen, da er sich Kundenverluste zuzieht. Die Abonnements in Wien sind unbeträchtlich gegen die in Deutschland; im übrigen geht es dem Kinde sehr gut, wir stehen bei 194 Abonnenten, und dies nach der ersten Nummer. Das Zentralblatt ist nicht weit von 500 entfernt.

         In Zürich, meine ich, haben sie sich nicht geschickt benommen. Jung hat es da an Kunst fehlen lassen und darum wohl auch so wenig darüber geschrieben.

         Noch vor meiner Abreise sind der Witz10 und die zweite Sammlung11 neu erschienen, ungeändert, weshalb ich Ihnen kein Exemplar schicke. Im Witz sind einige geringfügige Einschaltungen, meist aus Brills Arbeit.12

     

         Emden ist gleichzeitig mit mir abgereist, für Montag erwarte ich zur Kur Oberholzer13 aus Schaffhausen. Der Verein hat gestern geschlossen, wird aber inoffiziell jeden zweiten Mittwoch zusammenkommen und, wenn Jones hier ist14, das gebräuchliche Sommerfest abhalten. Vor Pfingsten gab es noch eine häßliche Szene zwischen Tausk, der ein böses Raubtier ist, und Stekel, die allerlei Nachspiele zur Folge hatte.15 Stekel wird in letzter Zeit nachlässig im Besuch, fühlt sich offenbar nicht behaglich, und Überraschungen scheinen mir, da er noch immer in Verbindung mit Adler steht, nicht ausgeschlossen. So geht Gutes und Schlechtes durcheinander.

         Unser Sommer (nach Karlsbad und Lovrana) ist noch ganz unbestimmt. Meine Mutter ist an einer schweren Neuritis mit Herpes zoster16 noch immer krank, doch kaum bedenklich.

         Ich habe den Sack für heute ausgeschüttet und grüße Sie nun herzlich in Erwartung Ihrer Nachrichten.

     

                                                         Ihr getreuer

                                                                Freud

     

         1    Wolf Stockmayer (1881-1933), Assistent Gaupps an der Universitätsklinik Tübingen und Mitglied der Schweizer Vereinigung; persönlicher Freund Jungs. Ab Ende 1913 in Berlin (Freud/Abraham, 4.11.1913, Briefwechsel, S. 152); später als analytischer Psychologe in Stuttgart tätig.

         2    Der Spitzname für Binswangers Schwiegermutter, die auf dem Familienbesitz lebte (Jones II, S. 118).

         3    Graf Ferdinand von Zeppelin (1838-1917), Konstrukteur des nach ihm benannten Luftschiffs.

         4    Napoleon III (1808-1873), Präsident der 2. Französischen Republik (1848-1952) und Kaiser von Frankreich (1852-1870). Seine Mutter Hortense (geb. de Beauharnais) hatte sich, mit ihren Kindern auf der Flucht, nach Aufenthalten in verschiedenen Orten schließlich im Schloß von Arenenberg niedergelassen.

         5    Hohentwiel: Vulkankegel im Hegau (686 m) und eine nach ihm benannte Burg (erstmals im 10. Jh. belegt); Schauplatz der Handlung in Joseph Victor von Scheffels (1826-1886) Hauptwerk Ekkehard, Eine Geschichte aus dem zehnten Jahrhundert (Roman; erschienen 1855). Scheffel, Autor vor allem historisierender Werke, gehörte zu den meistgelesenen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts.

         6    Der sogenannte Höllturm, ein mittelalterlicher Wehrturm.

         7    Leopold Löwenfeld (1847-1924), Psychiater in München. Freud hatte mit ihm 1895 eine wissenschaftliche Kontroverse über die sexuelle Ätiologie der Angstneurose ausgetragen, mit dem Ergebnis, "daß wir Freunde geworden und bis auf den heutigen Tag so geblieben sind" (Freud 1916‑17a, S. 251).

         8    Rudolf Reitler (1865-1917), Wiener Arzt, Gründungsmitglied der Mittwoch-Gesellschaft.

         9    Siehe 275 F und Anm. 4.

         10    Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten (1905c), 2. Auflage 1912 (Deuticke, Wien).

         11    Die zweite Auflage der Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre (2. Folge), Leipzig und Wien 1912.

         12    Freud hatte aus einem Artikel Brills (>Freuds Theory of Wit<; Journal of Abnormal Psychology, 1911, 6) einige fremdsprachige Beispiele (1905c; S. 20f., 31 und 33) übernommen.

         13    Emil Oberholzer (1883-1958), Mitglied der Züricher Ortsgruppe. Nach Jungs Abspaltung Mitbegründer (1919) der bis heute bestehenden "Schweizer Gesellschaft für Psychoanalyse", deren erster Präsident er bis 1927 war. In diesem Jahr gründete er eine eigene rein ärztliche psychoanalytische Gruppe, die allerdings nach seiner Emigration (1938) zerfiel. Er ging mit seiner Frau, der Kinderanalytikerin Mira, geb. Gincburg (1887-1949), nach New York, wo er Mitglied der dortigen Vereinigung wurde.

         14    Jones verbrachte den Sommer mit seiner Freundin Loe, die von Freud analysiert wurde, in Wien (Jones II, S. 118 und Associations, S. 197); siehe unten.

         15    Victor Tausk (1879-1919), nach einem Jusstudium in Wien Rechtsanwalt und Richter in Kroatien, von 1906-1908 als Schriftsteller und Journalist in Berlin tätig. 1908 ging er nach Wien, und um Psychoanalytiker werden zu können, studierte er Medizin und wurde Psychiater (1914). Tausk gilt als ein Pionier der psychoanalytischen Psychosenforschung (z.B. >Über die Entstehung des "Beeinflussungsapparates" in der Schizophrenie<; Zeitschrift, 1919, 5: S. 1-33). Zur Beziehung zwischen ihm, Freud und Lou Andreas-Salomé (vgl. 325 F, Anm. 3) und den Motiven für seinen Selbstmord siehe Paul Roazen, Brudertier - Sigmund Freud und Victor Tausk, Die Geschichte eines tragischen Konflikts (1969; deutsche Ausgabe: Hamburg 1973), und Kurt R. Eissler, Talent and Genius, New York 1971.

    Tausk hätte den Besprechungsteil im Zentralblatt übernehmen sollen, worauf Stekel erklärte, "er werde nie zugeben, daß Dr. Tausk in seinem Blatt schreibe" (332 F; siehe auch Jones II, S. 168). Nach einer Darstellung von Freud und Federn aus dem Jahre 1929 (Protokolle IV, S. 108f.) provozierte Stekel diesen Vorfall, um Freud aus dem Zentralblatt drängen und es selbst übernehmen zu können.

         16    Nervenentzündung und Gürtelrose.