• S.

    Prof. Dr. Freud                                                                                         Wien, IX. Berggasse 19.

                                                                                                                                                           26.III.24.

    Lieber Freund,

    Sie verlangen eine schnelle Antwort, Anna klopft sie heute auf einer neuen eigenen Schreibmaschine.

         Sie halten mir vor, daß meine Stellungnahme zum Trauma der Geburt schwankend und widerspruchsvoll ist. Sie haben recht, aber nur wenn Sie das zeitliche Moment vernachlässigen. Die Wahrheit ist, daß mir die Sache anfangs viel besser gefallen hat als jetzt und daß ich mich nach Ihrem eigenen Zitat auf dem Wege von den 66 % zu den 33 % befinde.

         Teilen wir den Gegenstand ein in das Theoretische, Praktische und Persönliche. Zum ersteren: Ihre Parteinahme für die Ranksche Lehre macht mir natürlich einen starken Eindruck. Aber meine eigenen, ich kann nicht sagen Urteile, sondern Ahnungen laufen doch anders. Ich bin über die erste Abschreckung, die Sie zugestehen, daß unser kunstvoller ätiologischer Bau durch das plumpe Trauma der Geburt abgelöst werden sollte, noch nicht hinausgekommen. Ich prüfte die Lehre an einem Spezialfall, am Untergang des Ödipuskomplexes, und fand sie unbefriedigend. Wohlgemerkt, Rank faßt das Trauma der Geburt durchaus individuell und ontogenetisch auf. Es ist überhaupt sein Bestreben, das Phylogenetische womöglich loszuwerden. Dagegen richten sich meine Einwände. Wenn das Geburtstrauma nicht onto‑, sondern phylogenetisch wirkt, dann erst hat er den Anschluß an Ihre Genitaltheorie, der ihm sonst entgeht, und dann ließe sich ja darüber reden. Hier wie an andern Stellen ist es die Schuld der durchaus unzulänglichen Darstellung Ranks, wenn sich solche Mißverständnisse erheben können. Er sagt es, glaube ich, nirgends ausdrücklich, daß er das Trauma ätiologisch an die Stelle des Ödipuskomplexes setzen will, aber alle spüren es heraus, und Sie ziehen in Ihrem Briefe direkt die Folgerung, daß der Ödipuskomplex seine dynamische Kraft dem Geburtstrauma verdankt. Daher dann der heftige Widerspruch. Nach Ihrer phylogenetisch orientierten Auffassung kämen wir ja doch wieder auf die Sexualität zurück. Nach der Rankschen müßte man fordern, daß zuerst und vor allen weitgehenden Anwendungen der Nachweis durch die Statistik erbracht würde, daß erstgeborene, schwer und asphyktisch geborene Kinder durchschnittlich eine größere Disposition zur Neurose oder wenigstens zu Angstproduktion in der Kindheit erkennen lassen. Auch die Beobachtung von Kaiserschnittkindern, also mit kurzem und schwachem Geburtstrauma, käme in irgendeiner Weise, positiv oder negativ, in Betracht. An Ranks Stelle hätte ich die Theorie nicht veröffentlicht, ehe ich nicht diese Untersuchung angestellt hätte.

     

         Ich muß nochmals auf die durchaus ungeschickte und mangelhafte Darstellung bei Rank zurückgreifen. Es juckt einen oft in den Fingern, die Sache anders anzupacken, und zwar so, daß die Leser auch erfahren, was ihnen neu geboten wird, wo die Verbindungen, die Schwierigkeiten, die Übereinstimmungen liegen. Insoferne kann ich Rank von einer gewissen tragischen Schuld1 an der Aufnahme seines Fundes nicht freisprechen. Ich bleibe natürlich dabei, daß er etwas Wichtiges und Interessantes aufgedeckt hat, aber er hat es nicht ordentlich verarbeitet.

         Ich glaube übrigens, den Untergang des Ödipuskomplexes haben Sie analytisch mißverstanden. Ich meinte nicht, daß der Ödipuskomplex an der Rankschen Lehre vom Geburtstrauma untergeht, mein kleiner Aufsatz darüber wäre durchaus existenzfähig, auch wenn Rank sein Buch nicht geschrieben hätte. Er behandelt die Tatsache, daß der Ödipuskomplex normalerweise nicht einfach verdrängt, sondern wirklich demoliert, aufgehoben wird (durch Identifizierung und Überichbildung) und daß die bloße Verdrängung desselben die pathogene Disposition schafft. Dieser Unterschied ist bisher vernachlässigt worden. Sie mögen recht haben, daß der affektiv betonte Titel auf eine Regung bei mir hinweist, die mit dem Geburtstrauma zu tun hat. Aber das ist eine analytische Nebenbedeutung, die sich keinem Leser aufdrängen muß. Ich glaube, der Aufsatz wird mit Weglassung der Diskussion über das Geburtstrauma veröffentlicht werden.

         Zweitens: Während ich in der theoretischen Würdigung an den mindestens 33 % festhalte, mißlingt mir in praktischer Hinsicht jede Schätzung. Ich weiß, so wie Sie, nur sehr wenig von der technischen Modifikation, die Rank auf seine Lehre gründet, und kann mir ihre Wirkung vorläufig nicht vorstellen. Ich habe den Verdacht, daß sich der Erfolg auf die bekannte Wirkung der Terminsetzung einschränkt, wenn solche im richtigen Moment und auf entsprechende Zeit gegeben wird. Die Unsicherheit in diesen beiden Punkten, die kaum auszuschließende Willkür dabei, scheinen mir nicht unerhebliche Gefahren mit sich zu bringen. Ich bin aber natürlich bereit, mich durch die Erfahrung, eigene oder fremde, belehren zu lassen, wie überhaupt alle meine Urteile darüber nur vorläufige sind. Ich habe sie auch nicht für etwas anderes ausgegeben.

     

         Drittens: Nun das Persönliche. Alles Bisherige wäre ja bloß interessant, eine erwünschte Würze unserer Arbeit und ein Stoff, der uns freundschaftlich durch lange Zeit beschäftigen könnte. Das Persönliche ist unleidlich. Ich fürchte, es wird sich außer bei Ihnen und bei mir vom Sachlichen nicht trennen lassen. Hier stehe ich viel mehr auf Ihrer Seite. Ich finde auch, daß unsere Berliner Mitglieder sich nicht freundschaftlich gegen Rank benommen haben, und möchte gerne eine Gelegenheit ergreifen, um es, besonders Abraham, direkt zu sagen.2 Aber auch hier stoße ich auf eine Eigenschaft Ranks, die meine Parteinahme erschweren wird. Man wird mir gewiß erwidern, Rank sei so reizbar, daß es gar keine Aussicht gehabt hat, sich persönlich an ihn zu wenden anstatt an mich, und wird zum Beweise anführen, daß er vor kurzem in einem Rundbrief gedroht hat, er werde keinen Patienten mehr zur Ausbildung nach Berlin schicken, weil man den einen in indiskreter Weise über seine Technik ausgefragt hat3. Den Schiedsrichter machen ist sehr schwer, wenn, wie so häufig, das Unrecht auf beide Seiten verteilt ist. Ich würde von Ihnen erwarten, daß Sie als der weniger Betroffene die Erbitterung Ranks gegen Abraham nicht teilen und ihn nicht darin bestärken.

     

         Was ist nun zu tun? Am 13. April will Eitingon nach Wien kommen, um dann mit uns nach Salzburg zu reisen. Ich meine, Sie beide als die Besonnensten sollten sich zusammentun, um den persönlichen Konflikten, die nicht wegzuleugnen sind, die Spitze abzubrechen und deren ärgste Konsequenzen zu verhüten. Von mir selbst dürfen Sie nicht zu viel erwarten. Erstens leugne ich gar nicht, daß mir diese beständigen Zankereien enorm zuwider sind und wahrscheinlich die Folge haben werden, daß ich mich überhaupt nicht einmenge, was immer geschehen mag. Zweitens ist mein Gesundheitszustand seit der Schnupfengrippe4 so wenig befriedigend, daß ich nicht einmal sicher bin, am Kongreß teilnehmen zu können. Die um mich Besorgten drängen mich dazu, die Osterzeit für einen reinen Erholungsurlaub, etwa in Abbazia, zu verwenden, und wenn ich bis dahin nicht besser bin, bleibtB mir auch nichts anderes übrig. Das gäbe dann eine einfache Lösung. Ich könnte mich in die Frage der Präsidentschaft nicht mengen, die Diskussion im Schoße des ehemaligen Komitees könnte nicht stattfinden, und Sie müßten notgedrungen es alles untereinander erledigen. Vielleicht wird es wirklich so ausgehen. Ihr neuer Vorschlag, die Diskussion zu unterlassen, braucht vor Rank nicht geheimgehalten zu werden. Er hat spontan seine Neigung kundgegeben, sich von einer solchen Diskussion zu absentieren, was ich mir erlaubt habe, ihm übelzunehmen.

         Die Genugtuung, die Sie für Rank wünschen, wird in einer anderen Form realisiert werden. Ich habe die feste Absicht, die Leitung der Wiener Gruppe niederzulegen, da ich abends zu müde bin, die Sitzungen zu besuchen, und es ist kein Zweifel, daß er mein Nachfolger werden wird. Ich verhandle gegenwärtig mit ihm darüber, wann dies geschehen soll, da ich möchte, daß er schon auf dem Kongreß in seiner neuen Eigenschaft auftrete. Ich brauche Ihnen nicht zu versichern, daß meine persönlichen Gefühle für Rank und für Sie ungeändert sind. Ich ärgere mich zwar über die Schwächen, die bei Ihnen beiden zum Vorschein kommen, aber das ist kein Grund, fünfzehnjährige Freundschaftsdienste und Mitarbeiterschaft zu vergessen. Ich kann nur auch die anderen nicht von mir stoßen, die ja ähnliche Ansprüche erheben können. Und ein bißchen mehr oder weniger Unrecht, wenn man sich von Leidenschaften treiben läßt, ist kein Grund, Menschen, die man sonst lieb hat, zu verdammen.

         Ich hoffe, daß Sie früh genug nach Wien kommen werden, um mit Eitingon und Rank das Nötige zu verhandeln, und werde Sie jedesfallsC wissen lassen, wann und wohin ich reise, sodald ich es selbst weiß.

         Mit herzlichen Grüßen für Sie und Frau Gisela

                                                                                                                                                                        Ihr

                                                                                                                                                                 Freud

     

     

    _________

    A Der Brief ist in Maschinenschrift verfaßt, lediglich die Unterschrift   +Freud* ist handschriftlich.

    B Im Original: blaubt.

    C So im Original.

     

         1            Vgl. 221 F und Anm. 13.

         2            Vgl. Freuds Brief an Abraham vom 31. März: `Denn wie weit Ihre Reaktion auf Ferenczi und Rank berechtigt sein mag, davon ganz abgesehen, freundschaftlich war Ihr Verfahren gewiss nicht ... Ich meine, es ist nun an Ihnen, einen weitergehenden Zerfall aufzuhalten ... Es kann doch nicht Ihre Absicht sein, aus Anlass Ihrer Besorgnis die Internationale Vereinigung und alles, was an ihr hängt, zum Einriß zu bringen@ (Briefwechsel, S. 331).

         3            `Mr. Moxon ... hat ... mitgeteilt, daß er in Berlin von verschiedenen Kollegen, deren Namen mir auch bekannt sind, über die Art seiner Analyse bei mir, bzw. meine Technik ausgefragt wurde ... Außerdem glaubte er aber an den Reaktionen seiner Interviewer deutliche Zeichen von Mißbilligung meiner Technik zu bemerken ... Es bleibt mir nach der Erfahrung mit Mr. Moxon nichts anderes übrig, als die Konsequenz zu ziehen, keinen meiner Analysanden mehr zur Ausbildung nach Berlin zu schicken@ (RB Rank, 4.1.1924, BL).

         4            Eine `Naseneiterung, die gewiß Äußerung einer Grippe war@ (Freud an Eitingon, 22.3.1924, SFC), wegen der Freud `zum ersten Mal in [s]einem ganzen ärztlichen Leben die Arbeit über das Wochenende unterbrochen@ (Freud an Abraham, 31.3.1924, Briefwechsel, S. 330) hatte und die folgenden Wochenenden auf dem Semmering verbrachte.