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S.
26.2.16
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Freund
Da Sie Ihren Besuch abgesagt haben, kann ich Ihnen wieder kurz schreiben. Alle Ihre Mitteilungen haben mich ungemein interessiert. Sie erlauben mir aber, eine wohlwollende Neutralität zu beobachten, da ich einerseits zu faul bin, anderseits Ihre Anläufe nicht stören möchte. Ich kann nur verraten, das meiste gefällt mir. Die Erklärung des Zitterns als maßgebendes Beispiel für die Wendung der Aktion nach innen, in dem von uns erkannten Lamarckschen Sinn als +piétiner sur place*1 hat mich frappiert. Zu Krankengeschichte und Träumen weiß ich nichts zu sagen. Den großen Brief schicke ich Ihnen zurück, nachdem ich ihn nochmals durchgelesen. Noch besser, Sie nehmen ihn am Sonntag mit.
Ein Aufsatz mit vorläufigen Mitteilungen zu den Kriegsneurosen würde der Zeitschrift hochwillkommen sein. Ich nehme an, daß Sie dort Ihre schönen theoretischen Gesichtspunkte noch für sich behalten und nur das Material ausbreiten, um daraus die nächsten Schlüsse zu ziehen. Nr. 6 der Zeitschrift (mit der Schule von Bordeaux2) ist heute erschienen. Der S[eparat‑]A[bdruck] von Kohnstamm3 ist ein dilettantischer Unsinn, ein Originell‑sein‑Wollen mit erborgten Gütern. Er regt Betrachtungen an, ob denn die Wissenschaft bei der demokratischen Zerfahrenheit ihres Betriebs überhaupt gedeihen kann. Aber leider ist die Autorität noch ärger. Es läßt sich nichts machen; man muß jeden Esel schreien und jedes Hornvieh brüllen lassen.
Daran, daß ich die traumatische Neurose für eine somatische Darstellung des Totseins erklärt, kann ich mich nicht erinnern und möchte es ableugnen.
Bei uns wenig Neues. Ernst ist bis Ende des Monats hier, war in Hamburg und Berlin. Oli ist durch Influenzaanfall zu einem Urlaub genötigt worden, den er bei seiner Frau hier verbringt.4 Ich schließe nächsten Samstag die Vorlesungen. Manuskript (Traum) fast fertig.
Herzl[iche] Grüße, auch an Frau G.
von Ihrem
Freud
1 In EÜber zwei Typen von KriegsneurosenD hatte Ferenczi das bei diesen auftretende Zittern der Beine als phylogenetische Regression auf eine autoplastische Reaktionsweise und als `,nicht vom Fleck kommen' (piétiner sur place)@ beschrieben (Ferenczi 1916, 189; Zeitschrift, 1916-17, 4: S. 141f.).
3 Vielleicht Friedemann und Oskar Kohnstamm (1871-1917), EZur Pathogenese und Psychotherapie bei Basedowscher Krankheit. Zugleich ein Beitrag zur Kritik der psychoanalytischen ForschungsrichtungD(Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, 1914, 23[4-5]).
4 Ernst verbrachte die Zeit vom 26.2. bis 1.3., Oliver die vom 22.2. bis 3.3. in Wien (Kalendernotizen Freuds, LOC).
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