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    S.27.X.12 Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19. Lieber Freund Überflüssig zu sagen, daß mir Ihre Bemerkungen über Jung vollkommen einleuchten, nur müßte ein Stück der Kritik anders gewendet werden. Man kann niemand vorwerfen, daß er das Vorbewußte nicht akzeptiert, aber man kann ihn auf die Schwierigkeiten und Dunkelheiten aufmerksam machen, in die er durch die Ablehnung desselben verfällt. Die beiden Briefe von Brill und Maeder bitte ich an Rank zu schicken, der sie an Sachs weitergeben wird. Unterdes geht auch hier einiges vor. Es ist Aussicht vorhanden, daß wir Stekel loswerden, was schon ein Opfer wert ist.1 Sie wissen, daß ich seit der letzten Versöhnung fürchterlich tolerant und liebenswürdig gegen ihn war. Im Sommer fing er mit Stänkereien und Eifersüchteleien an, zuerst Ihretwegen, dann kündigte er an, er werde den Kampf gegen die Imago aufnehmen. Endlich kam folgendes. Nachdem ich das Referierkomitee eingesetzt, das seine Insuffizienz, Referate fürs Zentralblatt zu beschaffen, korrigieren soll, erklärte er plötzlich ‑ ich kürze die Präludien ab ‑, er werde nie zugeben, daß Dr. Tausk in sein[em] Blatt schreibe. Meine Antwort war, es sei nicht sein Blatt, sondern das Organ der I.Öα V., und es ginge nicht an, ein Mitglied derselben wegen persönlicher Verfeindung mit dem Redakteur von der Arbeit auszuschließen. Darauf Schmollen. Im Laufe der folgenden Woche ließ er mich von drei verschiedenen Seiten her wissen, er werde sich trennen, sein Blatt unabhängig machen und für alle eröffnen. Also er hält die Situation für günstig, einen Verrat auszuführen. Darauf meine erste Aktion. Ich schrieb ihm, daß ich meinen letzten technischen Beitrag zurückziehe, bis die Differenz zwischen uns behoben sei. An Bergmann2 ‑ zu dem ich kein Zutrauen habe ‑ wandte ich mich (22/X) mit der Anfrage, ob er im Falle eines Konflikts auf mich oder auf Stekel verzichten wolle. Heute lief erst die Antwort von Bergmann ein, er werde in einigen Tagen auf den Inhalt des Briefes zurückkommen. Stekel schweigt, es wird also geplant und vorbereitet. Daher heute mein zweiter Schritt. Ich habe von St[ekel] verlangt, sich zu äußern, nachdem ich von seinen Absichten durch mehrere Mittelspersonen gehört habe. Was er tun will, weiß ich noch nicht. Aber mein weiterer Weg ist vorgezeichnet. Kommt keine volle Unterwerfung bei ihm heraus und ist Bergm[anns] Antwort zweifelhaft, so lege ich sofort die Herausgeberschaft des Blattes nieder, fordere mittelst Zirkular alle unsere Freunde auf, ihren Namen und Mitwirkung dem Blatt zu entziehen, und schreite unverzüglich an die Gründung eines neuen, das etwa -A Monatsschrift heißen kann. Der Brief an den Berliner Verleger Reiss3, der sich mir im Juni als +fanatischer* Anhänger angeboten hat, ist schon geschrieben, aber noch nicht abgeschickt. Ich möchte die neue Zeitschrift schon im Januar herausbringen, würde sie am liebsten als Zweimonatsblatt versuchen, Material für sie schon von jetzt an aufspeichern. Bleibt die Frage des Redakteurs. Ich schwanke zwischen zwei Personen: Abraham und Ihnen. Gegen A[braham] spricht, daß er bis zum äußersten beschäftigt ist, für ihn der Ort, an dem auch der Verleger wohnt. A[braham] ist noch nicht verständigt. Für Sie spricht alles mit Ausnahme des abseits gelegenen Wohnortes. Ich hoffe nämlich, daß Sie das Anerbieten im Interesse unserer Sache nicht abweisen werden. Das Erscheinen in zweimonatlichen Pausen wird Ihnen die Arbeit erleichtern und den Nachteil der geographischen Lage Budapests aufheben. Entweder beim nächsten Kongreß oder schon vorher werden wir dann durchsetzen, daß dem Zentralblatt der offizielle Charakter aberkannt wird. Meine nächste Absicht ist, rasche Entscheidungen herbeizuführen. ‑ Meine Vorlesung hat gestern vor 50 ‑ 60 Hörern begonnen. Die Andreas‑Salomé war auch schon dabei. Am Mittwoch halte ich einen polemischen Vortrag[,] anknüpfend an einen Krankheitsfall[,] im Verein.4 Die Arbeit geht sonst von 8h ‑ 9h abends. Die Jones macht sich sehr gut und hat auf die erste Hälfte ihrer Morphindosis ohne Schwierigkeit verzichtet. Die ernsteren Arbeiten leiden etwas unter der Überbeschäftigung. Das englische Buch über den Moses ist angekommen, ich suche jetzt Zutritt zum Museum der Akademie der Bildenden Künste5, in dem sich ein großer Gipsabguß befindet. Ich lege Ihnen heute den unkorrigierten Druck der technischen Arbeit beiA und bitte um Ihre Bemerkungen. Ihr Vorschlag, von der Unverträglichkeit mit anderen Behandlungen zu sprechen, wird noch berücksichtigt werden.6 Also Arbeit genug. Herzlichen Gruß Ihr Freud _________ A Neben diesen Absatz schräg an den linken Rand geschrieben: Besondere Sendung! 1 Der Bruch zwischen Stekel und Freud wird aus dessen Sicht unter anderen von Jones (II, S. 168f.), Clark (Freud, S. 357) und Gay (Freud, S. 232) beschrieben. Vgl. auch Freuds Brief an Abraham vom 3.11.1912 (Briefwechsel, S. 126f.). Stekels Version findet sich in seiner Autobiographie (New York 1950, S. 142ff.), in der er vermutet, Jung habe bei Freud gegen ihn gearbeitet. Sein Austritt aus der Vereinigung wurde am 6. November bekanntgegeben (siehe Protokolle IV, S. 108f. - wo die Herausgeber auch eine Darstellung Freuds und Federns anführen - und Zeitschrift, 1913, 1: S. 112). Freud gründete als neues offizielles Organ der IPV die Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse; er war Herausgeber, Redakteure waren Ferenczi, Rank und Jones. Sie erschien sechsmal im Jahr, beginnend mit Jänner 1913. Das Zentralblatt existierte unter Stekels alleiniger Führung noch bis September 1914 und ging dann ein. 3 Erich Reiss (1887-1951), deutscher Verleger, Begründer des Erich Reiss Verlags, der die Zeitschriften "Zukunft" und "Schaubühne" verlegte. Er wurde 1937 interniert und emigrierte nach seiner Freilassung nach Schweden, England und New York, wo er starb. 4 Freuds Vortrag vom 30.10.1912 ("Eine kausuistische Mitteilung mit polemischen Bemerkungen") wandte sich gegen Adlers Theorem vom "männlichen Protest" (Protokolle IV, S. 104ff.); siehe unten 336 F. 5 In Wien. Vgl. auch Freud 1914b, S. 190. 6 "Kombinierte Behandlungen wegen neurotischer Leiden mit starker organischer Anlehnung sind meist undurchführbar. Die Patienten lenken ihr Interesse von der Analyse ab, sowie man ihnen mehr als einen Weg zeigt, der zur Heilung führen soll" (Freud 1913c, S. 471). Zur selben Zeit war sich Freud übrigens im unklaren, ob Loe Kanns Zustand nicht organisch bedingt sei und ließ ihren Urin untersuchen. 
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          Berggasse 19 
            Wien 1090  
    Österreich
          VII Erzsebét-kőrút 54 
            Budapest 1073  
    Ungarn
http://data.onb.ac.at/rec/AC16572437 Autogr. 1053/14(1-8) HAN MAG
 
 
 
 
