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S.
23.6.12
Prof. Dr. Freud Wien, IX. Berggasse 19.
Lieber Freund
Die letzten zwei Wochen waren die stärkste Arbeitszeit dieses Jahres. Auch am Sonntag keine Spur von Freiheit. Dies zur Entschuldigung.
Ich bin auf Ihre Nachrichten sehr gespannt, auch welchen Abend Sie bei uns verbringen wollen. Daß wir im September zusammen reisen, wenn Sie zu nichts Besserem kommen, bleibt doch bestehen. Brill will uns auch um diese Zeit besuchen und sich uns wahrscheinlich für eine Weile anschließen. Aber wohin geht die Reise?
Ihren Aufsatz gegen Putnam billige ich im Geiste sehr. Sie bleiben schon derjenige, der der Katze die Schellen umhängen wird. Unlängst habe ich Sie aber gegen Bleuler energisch vertreten.1
Die Neuigkeiten hier sind die Anwesenheit von Pfister und Jones, die beide auch den Abend auf dem Konstantinhügel mitgemacht haben. Pfister wurde von meiner Großpatientin2 [gebeten], für eine Woche bei einer Entwöhnung zu helfen. Er ist brav wie immer, seine Liebesgeschichte3 steht nicht gut, auch so etwas, daß das auserwählte Mädchen ihre Gefühle nicht recht kennt. Intimes von Z[ürich] wußte er wenig, denn er wird dort nicht sehr weit eingeweiht, aber auch nach seinen Nachrichten ist an der Unabhängigkeitsbewegung dort kein Zweifel. Jones hat mir seine Frau4 zur Vorbehandlung gebracht, zu der er endlich ihre Zustimmung bekommen hat; er bleibt die drei Wochen mit ihr hier. Sie ist eine hochintelligente, tief neurotische Jüdin, deren Krankengeschichte leicht zu lesen ist. Ich werde mich freuen, viel Libido für sie aufwenden zu können. Auch Jones hat sich Jung entfremdet, da er keine Antworten auf seine Briefe an ihn erhielt. Ich habe mit beiden ‑ Pf[ister] und J[ones] ‑ offen über die Affäre gesprochen, glaube aber, jetzt ist es genug.
Jungs Berufung nach Amerika5 soll nichts Gutes sein. Eine kleine und unbekannte katholische, von Jesuiten gehaltene Universität, für die Jones abgelehnt hatte. Jones nimmt es ihm übel, daß er darum den Kongreß aufgegeben hat, und legt es mir nahe, warum ich nicht an seiner Statt die Leitung des Kongresses übernommen habe. Ich hatte nicht daran gedacht, fand dann die Antwort, ein solcher Vorschlag hätte nur von Jung selbst ausgehen können. ‑
Die Wissenschaft ruht natürlich bei mir, ich bin froh, daß ich die Tagesarbeit so gut vertragen habe. In drei Wochen bin ich mit meiner Frau in Karlsbad, wo ich wieder van Emden und Frau zur Gesellschaft finden werde. Ein einziger Einfall6, der Sie amüsieren wird, war, daß die Eingangsszene im Lear dasselbe bedeuten muß wie die Wahlszene im Kaufmann von Venedig. Drei Kästchen sind doch dasselbe wie drei Frauen, drei Schwestern. Immer ist dann die dritte die richtige Wahl. Diese dritte aber ist eigentümlich, sie redet nicht oder versteckt sich (Aschenbrödel7!), sie ist stumm. Erinnern Sie sich an den Wortlaut des Parisliedes in der +Schönen Helena*?
Und die dritte ‑ ja, die dritte ‑
stand daneben und blieb stumm.
Ihr mußt ich den Apfel geben.
Du, oh Kalchas, weißt warum.8
Also das Motiv der Wahl zwischen drei Schwestern, von denen die dritte stumm ist. Mit einigen Assoziationen habe ich herausbekommen, daß es die drei ‑ Schicksalsschwestern, die Parzen, sind, von denen die dritte stumm ist, weil sie ‑ den Tod symbolisiert (Stekel9). Der Zwang des Verhängnisses wird in das Motiv der Wahl verwandelt. Cordelia, die liebt und schweigt, ist also eigentlich der Tod. Die Situation Lear mit der Leiche Cordelias im Arm ist umzukehren, der alte Mann in den Armen der Todesparze. Die drei Parzen sind das Weib in seinen drei Haupterscheinungen: die Gebärerin, die Genußspenderin und die Verderberin, oder Mutter, Geliebte und Mutter Erde = Tod. Später habe ich herausbekommen, daß die Dreizahl von den Horen, d.h. von den Jahreszeiten herrührt, von denen die Alten zuerst nur drei unterschieden haben. Von der Vegetation also auf das Menschenschicksal übertragen.
Es grüßt Sie herzlichst
Ihr Freud
1 Bleuler hatte am 5.5.1912 Ferenczi in einem Brief an Freud (Library of Congress) kritisiert. Ferenczis Theorien der Homosexualität und seine Antikritik Bleulers zur Alkoholfrage (siehe 245 Fer und Anm. 4) ließen diesen zweifeln, ob Ferenczi überhaupt fähig sei, objektiv zu beobachten.
4 Jones' morphiumsüchtige Freundin Loe Kann (?-1945), die seinen Namen angenommen hatte, ohne mit ihm verheiratet zu sein (Jones, Associations, S. 139f.). Freud und Jones korrespondierten in der Folge über ihre Analyse; die Briefe sind zum Teil von Vincent Brome (Ernest Jones, Freud's Alter Ego, London 1982) veröffentlicht worden. Eine ungekürzte Veröffentlichung der Freud/Jones-Korrespondenz (hg. von Adrew Paskauskas bei Harvard University Press, Cambridge, Mass.) steht bevor.
6 Freud hat die folgenden Gedanken ein Jahr später unter dem Titel >Das Motiv der Kästchenwahl< (1913f) veröffentlicht.
7 <Für die englischsprachige Ausgabe:> Das Märchen von Cinderella. <Für andere nicht-deutsche Ausgaben:> Grimmsches Märchen, in dem Aschenbrödel, die als unbekannte Schönheit am Ball des Königs erscheint, nach dem Ball sich dreimal vor dem Prinzen versteckt, aber schließlich von ihm erkannt und zur Frau genommen wird.
8 Aus dem Libretto von Meilhac und Halévy zu Offenbachs Operette La Belle Hélène [Die schöne Helena], Akt 1,
Szene 7.
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