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    Rundbrief  
    vom 18. Februar 1926.  

    Liebe Freunde!  

    Ich lebe, wie Ihr wißt, in der Isolierung und kann darum meist  
    nur über ganz persönliche Dinge berichten. Meine Verbindung mit der  
    Außenwelt wird von unserem zweiten Wiener Mitglied, meiner mitunter-  
    schriebenen Tochter hergestellt.  

    Sie berichtet also als Neuheiten aus dem Vereinsleben, daß  
    Dr. Bernfeld seine Stelle im Lehrinstitut wegen Aufenthaltes in Berlin  
    niedergelegt hat und durch Dr. Nunberg ersetzt wurde. Ferner daß jeden  
    zweiten Mittwoch unter sehr reger Beteiligung aller Schüler und jüngeren  
    Mitglieder eine sogenannte Seminarsitzung stattfindet, in der die Ana-  
    lysen der Lernenden von dem ganzen Kreise beurteilt werden. Sonst äußere  
    Ruhe und intensive innere Arbeit.  

    Ich kann auf einige äußere Erfolge meiner jetzt eingeschränkten  
    Tätigkeit hinweisen. So z. B. ist es mir gelungen, eine Spezialnummer zu  
    meinem 70. Geburtstag zu unterdrücken, welche von einer Wiener Medizini-  
    schen Zeitschrift – ohne jeden Beruf – veranstaltet werden sollte. Dafür  
    habe ich auf der anderen Seite an den beabsichtigten Festnummern unserer  
    Zeitschrift aktiven Anteil genommen, nicht durch einen schriftlichen  
    Beitrag, sondern indem ich mich von Prof. Schmutzer, dem ersten Radierer  
    unserer Stadt, zeichnen lasse und angeregt habe, das Blatt für unsere  
    Zeitschrift zu erwerben. Ich hoffe, diese Konzession wird die erwünschte  
    Folge haben, daß man es mir an anderen Stellen erleichtert.  

    Unser Freund Jones erscheint mir zu unglücklich über das Aufsehen,  
    das meine Bekehrung zur Telepathie in englischen Zeitungen macht.
     

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    Er wird sich erinnern, wie nahe an eine solche Bekehrung ich schon in  
    der Mitteilung kam, die ich auf unserer Harzreise zu machen Gelegenheit  
    hatte. Rücksichten der äußeren Politik haben mich seitdem lange genug  
    zurückgehalten, endlich muß man doch Farbe bekennen und braucht sich  
    diesmal um das Spektakel so wenig zu bekümmern wie bei früheren, viel-  
    leicht noch wichtigeren Gelegenheiten. Übrigens wird es Jones zum Trost  
    gereichen, daß ich gerade heute die offizielle Mitteilung vom  
    Präsidenten der British Psychological Society, Spearman, erhalten habe,  
    daß ich zum Ehrenmitglied der Gesellschaft gewählt worden bin.  
    Meine neue Broschüre „Hemmung, Angst und Symptom“ soll dieser Tage er-  
    scheinen und wird allen Freunden zugeschickt werden. Ich bereite die  
    Leser darauf vor, daß sie manches Wichtige und Neue enthält, vieles  
    Frühere zurücknimmt und berichtigt und im Ganzen nicht gut ist. Wider-  
    sprechende Urteile werden auf Rechnung der Höflichkeit oder der Pietät  
    gesetzt werden.  

    Eine Erörterung der wichtigen Frage, was mit dem Komitee geschehen  
    soll, möchte ich aufschieben, bis Eitingon wieder ruhig in Berlin thront.  
    Es scheint mir nicht leicht, zu einer Entscheidung darüber zu kommen.  

    Mit herzlichen Grüßen nach allen Seiten,  

    Freud  
    Anna Freud