• S.

    Rundbrief  vom 14. VI. 1925.

    Liebe Freunde!

    Am 30. d. M. gedenken wir in die Villa Schüler am Semmering zu über-  
    siedeln. Liebe Besucher willkommen! Ich habe hier noch die Zu-
    sammenstellung der Nachträge zur Traumdeutung (3. Band Gesamtausgabe)  
    beendigt. Mit diesem Band schließt meine Beteiligung an diesem für  
    den Verlag ehrenvollen, für mich schmeichelhaften, sonst wahrscheinlich  
    ruinösen Unternehmen. Von neuen Eroberungen habe ich nur die erste  
    tschechische Übersetzung anzuzeigen. Sie betrifft die Sexualtheorie  
    und ist bereits honoriert worden.

    Die Vereinstätigkeit war immer noch sehr lebhaft, ich lasse mir  
    alles berichten, mein eigener Anteil daran ist gering. Die Arbeiten  
    an meiner Prothese sind zu einem gewissen Stillstand gekommen. Ich  
    sehe jetzt, was sie mir leistet und habe die Überzeugung gewonnen,  
    daß es mir auch weiterhin unmöglich sein wird, meine Funktionen als  
    Vorsitzender aufzunehmen. Ob sich der gegenwärtige Zustand meiner Ver-  
    tretung durch Federn halten wird, muß in Erwägung gezogen werden.

    Rank ist aus seiner Depression heraus, wir setzen unsere Bespre-  
    chungen fort, ich glaube, mit gutem Erfolg. Es gelingt mir, ihm nach-  
    zuweisen, daß seine Theorie und seine Neurose sich in auffälliger  
    Weise ergänzen.

    Der Verlag, dessen materielle Notlage kein Geheimnis ist, hat in  
    diesem Monat das Buch der Helene Deutsch über die weiblichen  
    Sexualfunktionen und die Studie von Winterstein über die griechische  
    Tragödie herausgebracht. Ich habe mich sehr gefreut zu sehen, daß  
    Róheims Australian Totemism endlich, wenn auch bei Allen, Unwin & Co.  
    erschienen ist.
     

  • S.

    2.

    Unser Mitglied Dozent Schilder, Assistent der Psychiatrischen  
    Klinik, ist von seinem Chef Wagner-Jauregg zum Professor vorgeschlagen  
    worden und soll sehr bald ernannt werden. Es ist der erste Fall,  
    dass jemand an der Universität befördert wird, der sich mit der  
    Psychoanalyse eingelassen hat. Wagner gehört zu unsern Gegnern, ist  
    aber ein wohlwollender, d. h. im Grunde ein indifferenter Mensch und  
    will auf diese Art beweisen, dass ihm Intoleranz ferne liegt. Er  
    fürchtet sich, durch gewisse Beispiele geschreckt, vor dem Votum der  
    Nachwelt. Dabei überschätzt er auch Schilders Unabhängigkeit von der  
    Schule, denn dieser ist, obwohl mit gewissen Unarten behaftet, ein  
    überzeugter Analytiker, ein fähiger Kopf und guter Lehrer.

    Aus Frankreich erhalte ich immer noch zahlreiche Zusendungen,  
    Zeitungsartikel und Romane, unlängst sogar ein sehr fähiges Manuskript,  
    in dem ein gewisser Gauchez den Fall Léon Daudet und seines Sohnes  
    psychoanalytisch auflöst. Ich musste natürlich wegen der polemischen  
    Tendenz des Autors von der Veröffentlichung abraten. Auch mein kleiner  
    Aufsatz in Nr. 2 der Revue Juive („Widerstände gegen die Psychoanalyse“)  
    ist bereits mehrmals besprochen worden. Laforgue hat mir die Nummer  
    des Progrès Médical zugeschickt, in welcher er zur Zentenarfeier  
    Charcots mein Verhältnis zu ihm behandelt. Ich hoffe, es ist den Mit-  
    gliedern auch bekannt, dass der 1. Band von Laforgues Psychoanalytischem  
    Jahrbuch unter dem Titel „L’Evolution Psychiatrique“ bei Payot bereits  
    erschienen ist. Ich meine, ein guter Teil des Verdienstes, wenn die  
    Psychoanalyse sich endlich in Paris festgesetzt hat, ist der Arbeit mei-  
    nes Schülers Saussure zuzuschreiben.

    Mit herzlichen Grüßen an alle,  
    Freud  
    Anna Freud