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    Berlin 17.2.23

    Liebe Freunde,

    Von hier ist zu melden, daß die Psa langsam, aber merkbar
    immer mehr in den Mittelpunkt des ärztlichen Interesses rückt. Ein
    Zeichen der Zeit ist z. B., daß die jüngeren Assistenten der psychiatr.
    Universitätsklinik zu unsern Kursen kommen. In der Poliklinik von
    Cassirer, Oppenheims Nachfolger, war noch vor 1–2 Jahren ein Gespräch
    über Psa nicht ungefährlich, da man sich durch ein positives Wort sehr
    mißliebig machte. Seit einem Jahr nehmen die sämtlichen Assistenten
    u. Assistentinnen an unseren Kursen teil, eine läßt sich von mir analy-
    sieren und zwei andre stehen in Unterhandlung, um in Analyse zu treten.
    Die Nachfrage nach Lehranalysen ist kaum mehr zu bewältigen. Vor Kur-
    zem wandte sich der Gynäkologe Prof. Liepmann, der auch unserm Kongreß 
    im Herbst beigewohnt hat, an Eitingon mit der Anfrage, ob einer seiner 
    Assistenten in unserm Institut ps-ausgebildet werden könne. Natürlich 
    lautete die Antwort entgegenkommend. In einer außerordentlichen
    Generalversammlung am 20., an der wir einen ständigen Unterrichts-
    ausschuß einsetzen werden, soll ein bestimmter Lehrgang der Psa als obligato-
    risch festgesetzt sein. Außerdem wird dieser Ausschuß künftig jedes
    Gesuch um Zulassung von Personen zur Ausbildung prüfen, damit ungeeignete 
    Bewerber ferngehalten werden können. In der gleichen Versammlung dürfte 
    auch die schon erwähnte Steuer zur Poliklinik in der Form angenommene werden, 
    wie sie von einer Kommission vorgeschlagen wird. Der monatlich zu erheben-
    de Beitrag soll nicht die laufenden Ausgaben decken, sondern dem Aus-
    bau des Instituts dienen. Darunter verstehen wir die Vergrößerung der
    Poliklinik als Behandlungsinstitut sowohl an Raum als an Personal, außer-
    dem aber die Schaffung eines Unterrichtsinstituts mit akademischem Cha-
    rakter und festem Lehrplan, natürlich auch mit den nötigen Räumen und
    mit der Möglichkeit, populäre Vortragskurse anzugliedern, damit auch
    diese unser „Monopol“ werden, während sie jetzt vielfach von Unberufen
    gehalten werden. Der Beitrag wird von den Mitgliedern monatlich ent-
    richtet. 4 % des „Brutto“-Einkommens des voraufgegangenen Monats werden 
    als Basis angenommen, doch steht jedem frei, den Betrag niedriger zu
    bemessen, wenn er durch Alter, Krankheit, besondere finanzielle Belastung
    sich dazu selbst für berechtigt hält, ebenso wenn er dem Institut in
    besonderer Weise dient und dafür von diesem besoldet wird. Überweist
    ein Mitglied einen Patienten an einen unserer ständigen Gäste, der noch
    nicht Mitglied ist, zur Behandlung, so geschieht dies künftig mit der
    Bedingung einer Abgabe im obigen Sinne. Durch ein besonderes Verfahren
    wird dafür gesorgt, daß die Höhe der Monatsbeiträge des Einzelnen nie-
    mandem bekannt wird, auch dem Kassierer nicht. Auf diese Weise wird jede
    gegenseitige Spionage verhütet. Niemand braucht irgend jemandem Rechen-
    schaft zu geben, wenn er seinen Beitrag einmal reduzieren muß. Andererseits
     

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    wird durch die völlige Geheimhaltung jeder Neid auf die Höhe des Ein-
    kommens eines anderen wie auch das Prunken mit hohen Beiträgen vermieden. 
    Der Modus der Entrichtung ist folgender. In der 2. Sitzung jedes Mo-
    nats wird in einem besonderen Zimmer ein Kasten aufgestellt, der einen 
    Einwurf für das Geld hat. Jeder betritt einzeln diesen Raum und wirft 
    seinen Beitrag ein. Verzeichnet seinen Namen außerdem in einem Buch, 
    das neben der Kasse aufliegt. Ist jemand einmal durch mißliche Um-
    stände nicht in der Lage, einen Beitrag zu geben, so betritt er trotz-
    dem den Raum und zeichnet sich in die Monatsliste ein, damit er nicht 
    gemahnt wird, oder gibt etwa irgend ein Minimum. Es kommt so niemand 
    in die Situation, dem Kassenführer sozusagen seine augenblickliche 
    Insolvenz anzeigen zu müssen. Das ganze System ist also weitgehend 
    auf das Vertrauen zur Opferwilligkeit der Mitglieder aufgebaut. Es wird 
    mit dem Monat März eingeführt und bis Juni ausgeprobt. Dann wird über 
    etwa notwendige Änderungen beschlossen.

       Der Vortrag von Rohr über die chines[ische] Schrift bot viele Gutes,
    schien uns aber noch nicht in allen Beziehungen reif, bedürfte also 
    jedenfalls noch guter Durchsicht, bevor er etwa in Druck geht. Der 
    chinesische Prof. Chang erzählte mir (A) in längerem Gespräch über sein
    Verhältnis zur Psa. Er ist noch ein jüngerer Mann, interessiert sich 
    besonders für die Traumdeutung und scheint eifrig mit Übersetzungen
    beschäftigt.

       Unserer letzten Sitzung wohnte Varendonck bei (dessen Frau noch 
    von Ophuijsen analysiert wird). Er beteiligte sich rege an der Dis-
    kussion, verriet dabei aber seine naiven Widerstände gegen das Ubw,
    so daß man leicht verstand, warum er Spezialist für das Vbw ist!

       Radó ist von Bpest zurück. Er erfreut sich in unserm Kreise der
    besten Sympathie, die ihm jetzt besonders wohl zu tun scheint.

       London: Die guten Berichte aus Wien über Moskau legen uns die
    Frage nahe, ob wir die vor einiger Zeit nach Moskau gerichteten Fragen 
    als bereits erledigt betrachten sollen. In diesem Falle brauchte ich
    nur eine kurze Nachricht von der Aufnahme an Ermakow zu geben. Bisher hörte ich 
    noch nichts Direktes von da. Wie denkst Du, l. Ernest, darüber?

       Bpest: Eitingon wird Dir, l. Sándor, Deine Auslagen zurückerstat-
    ten. Was die Krankheit von Frau Dr. R[adó] betrifft, so interessiert Deine
    Ansicht mich sehr, obwohl ich ihr nur teilweise beipflichte. Die An-
    gelegenheit ist aber nicht zur ausführlichen Erörterung im Rundbrief ge-
    eignet. Wir finden wohl einmal Gelegenheit zur mündl[ichen] Diskussion.

       Wien: In der Sache Spielrein ist schwer zu raten. Eitingon, der
    sie ja lange und genau kennt, schätzt ihre Intelligenz, macht aber 
    darauf aufmerksam, daß sie in der Praxis und auch in jeder beam-
    teten Stellung unmöglich sei, weil ihr abnormes Wesen allzu sehr 
    hervortritt. Auch ich (A) kenne sie seit fast 20 Jahren und kann dem 
    Urteil nur beipflichten.

       Dir, l. Otto, bestätige ich den Eingang des Schweizer Berichtes.
    Ich hoffe in einer Woche das Corr.-Bl. in 2 Exemplaren fertig stellen
    zu können. Nur bitte ich Dich, l. Ernest, noch um sofortige Nachricht,
    wohin das Exemplar für das Journal gehen soll. Ferner bitte ich Dich
    um einen Namen für die englische Ausgabe des Corr.-Bl., da bisher der
    Bericht ohne einen dem Deutschen entsprechenden Titel erschien, also
    nicht als offizieller Bericht kenntlich war. Wenn „Corr.-Bl.“ sich nicht
    gut übersetzen läßt, würde ich „Quarterly Reports of the I. Ps-A S.“ vor-
    schlagen.

                                          Mit besten Grüssen
                                           Abraham   Sachs   Eitingon