S.
Wien, am 1. Mai 1923
Liebe Freunde!
Vom Verlag ist als wichtigste Neuigkeit zu melden, daß das letzte
Werk des Professors: „Das Ich und das Es“, vorige Woche erschienen ist und Euch
allen im Auftrage des Professors und in meinem Namen vom Verlag zugeschickt
wurde. – Bei dieser Gelegenheit möchte ich übrigens meiner Verwunderung darü-
ber Ausdruck geben, daß auf meine Mitteilung in einem der letzten Rundbrie-
fe von der Erwerbung der Rechte zu einer Gesamtausgabe von Deuticke und dem
Professor durch den Verlag, von keiner Seite auch nur die geringste Reaktion
erfolgte. Vielleicht habe ich mich nicht klar ausgedrückt, so daß Ihr darüber
hinweggelesen habt. Ich empfinde aber doch das Bedürfnis, die Bedeutung die-
ses Momentes, wenn ich ihn auch vielleicht überschätzen mag, selbst hervorzu-
heben und den Verlag zu diesem Schritt zu beglückwünschen, der mir seit vie-
len Jahren als unerreichbare Möglichkeit vorschwebte. Allerdings fehlen uns
noch vorläufig die Mittel, um das Projekt so ausführen zu können, wie ich es mir den-
ke, ich hoffe aber, für diese Schwierigkeiten eine Lösung zu finden.
Der Professor selbst hat leider in der letzten Woche eine kleine
Operation durchmachen müssen, anläßlich einer vom vielen Rauchen
verursachten Leukoplakie der Mundschleimhaut (an der linken Innenseite der
Wange), die entfernt werden mußte, weil sie störte. Der Professor mußte die
Arbeit für einige Tage unterbrechen, da er Schwierigkeiten mit der Wunde und
Sprechen hatte, befindet sich aber jetzt wieder wohl und hat seit einigen
Tagen die Arbeit auch wieder aufgenommen. Während des Schreibens denke ich
daran, wie wohl ihm heuer der Sommerurlaub tun wird und komme damit zu der
von Dir, l. Karl, im letzten Schreiben angeregten Frage. Ich freue mich,
Dir mitteilen zu können, daß Deine Vorschläge sich so gut in unsere
Sommerpläne einfügen, daß wir sie ohne weitere Einwendungen akzeptieren kön-
nen. Wir sind also dafür, die zweite Zusammenkunft in der letzten Augustwoche
in Südtirol (Dolomiten) abzuhalten, über den Ort uns erst später
aber schnell einig werden. Der Prof. beabsichtigt nach Madonna di Campiglio zu gehen
(und zwar im August, wogegen er den Juli wie gewöhnlich in Gastein und den Sept.
ausnahmsweise wieder in Tirol verbringen möchte.) Soviel ich weiß, wirst Du, l.
Sándor, in dieser Zeit mit in den Dolomiten sein und ich selbst beabsichtige
auch 1–2 Monate dort zu verbringen.
ad Bln: Mit dem vorgeschlagenen Rundbriefmodus einverstanden. – Die Arbeit
von Frau Dr. Bálint ist nicht angekommen. Stärckes Aufsatz werden wir gerne
nehmen, wenn Du ihn empfiehlst. Peru wird eingestellt!
ad London: Deinen Wunsch, l. Ernest, wegen direkter Versendung Deines Buches
kann ich leider nicht erfüllen, da Hiller über die Bücher disponiert hat (der
Professor, ich und der Wiener Verein haben je ein Exemplar noch von Hiller bekommen).
Für den armen Kaplan kann der Fonds leider nichts tun, vielleicht kannst Du
ihm doch eine amerik. Unterstützung verschaffen.
Mit herzlichen Grüßen
[Freud/Rank]