• S.

    R u n d b r i e f

    Wien, 15. November 1925.

    Liebe Freunde!

    Nichts war uns in dem abgelaufenen Monat wichtiger als die Nachrichten  
    über die Gesundheit unseres lieben Abraham, die leider nicht immer gleich-  
    mäßig lauteten. Zum Glück lassen seine letzten Berichte mit Sicherheit 
    annehmen, daß alle seine Zufälle doch nur episodisch sind und bald bei  
    entsprechender Schonung der Gesundheit Platz machen werden.  

    Von hier ist wenig Öffentliches zu berichten. Die Vereinigung entfal-  
    tet eine lebhafte Tätigkeit in neuen Einrichtungen und Vorschriften.  
    Ihr Verhalten in Bezug auf das Lehrinstitut wird leider durch den Zwiespalt ge-  
    stört, daß die meisten ärztlichen Mitglieder im Grunde genau so wie ander-  
    wärts der Laienanalyse widerstreben, während ich und einige wenige andere 
    an dieser breiten Verbindung mit der nichtärztlichen Welt festhalten wollen.  
    Übrigens leidet die gesamte Existenz des Vereins und der Institutionen  
    unter der außerordentlichen Ungunst der wirtschaftlichen Verhältnisse, die  
    von Tag zu Tag fühlbarer werden.  

    Einiges Persönliche: Dr. Fritz Wittels, mein ungebetener Biograph aus  
    der Stekelperspektive, hat sich von seinem Lehrer oder Verführer frei ge-  
    macht und um Aufnahme in die Vereinigung nachgesucht. Ich bin sehr lebhaft  
    für ihn eingetreten, denn in dem Manne ist eine starke geistige Potenz und  
    für vortreffliche schriftstellerische Fähigkeiten anzuerkennen. Trotz man-  
    cher Bedenken gegen seine Person sehe ich in seinem Anschluß einen Vorteil.  

    Von Rank sind direkte Nachrichten, daß es ihm in Amerika gut geht,  
    daß er aber entschlossen ist, zu Weihnachten nach Wien zurückzukommen  
    und sich um die Wiedereroberung seiner früheren Position unter den Analytikern  
    zu bemühen.  

    Nach London berichte ich, daß ein englischer Arzt, J. Stirling–
     

  • S.

    Gilchrist, der sich im Sommer bei mir angemeldet hatte, im Oktober wirk-  
    lich erschienen ist. Es stellte sich aber im Verlaufe von drei Wochen  
    heraus, daß er durch seine Persönlichkeit, seine Schicksale und seine  
    gegenwärtigen Verhältnisse für die Ausübung der Analyse unqualifiziert  
    ist und eigentlich nur aus snobbistischen Motiven zu mir gekommen war. Ich  
    habe ihn veranlaßt, den Versuch bei mir abzubrechen, bin aber nicht sicher,  
    ob er nicht versuchen wird, sich auf anderen Wegen eine Art von Ausbildung  
    zu erschleichen.  

    Laforgue, unsere Hoffnung in Frankreich, wird auf seinen Wunsch zum  
    ordentlichen Mitglied hier gewählt werden. Es scheint, daß das Interesse  
    für die Analyse in Paris nicht im Erlöschen ist. Gegenwärtig ist eine  
    Dame aus der höchsten französischen Gesellschaft bei mir, eine Prinzessin  
    Bonaparte, verehelichte Prinzessin von Griechenland, der ich ein vorzüg-  
    liches Verständnis für unsere Probleme nachrühmen darf.  

    Mit herzlichen Grüßen für alle  

    Freud  
    Anna Freud