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    Berlin, 31. VII. 08.

    Lieber Herr Professor,

    Es ist mir sehr leid, daß Ihnen nicht bloß meine Arbeit, sondern auch noch meine persönlichen Angelegenheiten Zeit und Mühe kosten. Aber das Thema Zürich ist nun einmal angeschnit- ten, und da muß ich Ihnen noch einiges mitteilen. Sie meinen, ich hätte in der Fassung meiner Arbeit mehr Feingefühl walten lassen sollen. Ich glaube selbst, daß jetzt im Druck manches schärfer aussieht, als es gesprochen klang. Die Absicht zu verletzen habe ich nicht gehabt; allerdings war aber die Stimmung, als ich schrieb, gegen Zürich nicht ganz rosig. Kurz vor der Reise nach Salzburg bekam ich Jungs Amsterdamer Vortrag, Bleuler und Jungs Ent

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    gegnung an E. Meyer und hörte Bleulers Vortrag auf dem hiesigen Kongreß. Diese drei Leistungen haben mich allerdings frappiert. Jungs Niederlage in Amsterdam begriff ich nun. Bleuler umging im Vortrag alles Psychoanalytische (und was hätte er bringen können!), und die gemeinsame Publikation beider fand ich unerhört. Die Einteilung in primäre und sekundäre Symptome als Errungenschaft jahrelanger Analysen bei Geisteskranken! Und eine Haarspalterei um die Toxine etc. Mußte nicht statt dessen in Aussicht gestellt werden, man werde demnächst vom Boden der Sexualtheorie aus das Problem anfassen? Kein Wort von Freud oder Sexualtheorie. Aber Meyer ! (Ordentlicher Professor in Königsberg, und beiden Autoren als absolute Null bekannt.) Auf der Reise nach Salzburg erzählte mir Eitingon 

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    von dem Umschwung, und daß Jungs Vortrag über Dementia praecox nichts Freudsches enthalten werde. Ich hatte lange vorher Jung mitgeteilt, wie ich mein Thema auffaßte, und daß ich zu den früher besprochenen einige neue Gesichtspunkte hinzugenommen hätte. Sein Vortrag klang, als hätte er nie von Autoerotismus etc. gehört; unsre Vorträge sprachen aneinander vorbei. Den Grund für Jungs nachherige Mißstimmung haben Sie ja selbst am besten formuliert! Das Erstaunen über das Verhalten der Zürcher war allgemein. Jeder sah darin eine Abwendung. Kann man nun sagen, ich wäre Jung in der Benutzung einer Anregung, die wir beide von Ihnen empfangen hatten, zuvorgekommen? Nach meiner Meinung liegt die Sache so: Ich habe die Idee 

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    benutzt, und Jung hat sie geflissentlich unterdrückt. Um diese Auffassung kann ich nicht herum. Der weitere Verlauf bestätigte sie. Von einer Seite, die von meinem Konflikt mit Jung nichts ahnt, wurde mir vor wenigen Wochen geschrieben: »Im Burghölzli scheint Freud so etwas wie ein überwundener Standpunkt zu sein.« Warum kommen Unbeteiligte zu dieser Auffassung? Und was hätte alles Feingefühl von meiner Seite genützt? Auf mein Schreiben, in dem ich mich ausdrücklich auf Ihren Wunsch bezog, habe ich keine Antwort erhalten. Ich finde, in Rücksicht auf Sie durfte Jung meinen Brief nicht ignorieren. Ich habe die ganze Woche hindurch geschwankt, ob ich Ihnen alles dieses schreiben sollte. Ich habe versucht, mir

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    Ihre Meinung zu eigen zu machen. Ich kann in dieser Sache nicht so optimistisch sein. Wohl niemand hat sich über Jungs erstes Auftreten so sehr gefreut wie ich. Darum berührt mich die Änderung so schmerzlich. Ihr letzter Brief, lieber Herr Professor, enthielt soviel Anerkennendes und Freundliches für mich, daß mir dieses Schreiben schwer fällt. Aber gerade die persönlichen Sympathien, von denen Sie sprechen, zwingen mich dazu. – Wenn Sie im September in Z.[ürich] etwas erzielen, so werde ich mich sehr darüber freuen. Wenn Jung will, kann er der Sache Außerordentliches leisten, und ich begreife Ihren Wunsch, ihn zu halten, vollkommen. Auch wäre es sehr mißlich, wenn die Gegner sagen könnten, nun sei die einzige Klinik auch wieder von Ihnen 

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    abgefallen. Aber wenn dieser Schluß vermieden werden soll, so muß bald einmal wieder etwas Produktives von dort geleistet werden. Für Berlin ist die Prognose nicht ganz schlecht, die Anzeichen dafür mehren sich. – Über die traumatische Neurose spräche ich gern mit Ihnen; vorläufig sind wir aber wohl auf schriftlichen Verkehr angewiesen. Sobald ich Zeit finde, stelle ich die Hauptpunkte zusammen. Ein Haufen andrer Themata drängt sich auf. Die Korrektur des Mythus ist fertig, also wird dem Erscheinen im September nichts im Wege stehen. In 14 Tagen erscheint mein kleiner Aufsatz in Hirschfelds Zeitschrift. Mit herzlichen Grüßen Ihr Karl Abraham