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[Briefkopf II Berlin] 31. I. 09.
Lieber Herr Professor,
Durch die nahe bevorstehende Familienfeier sind Sie gewiß noch mehr als sonst in Anspruch genommen. Trotzdem möchte ich Sie bitten, mir aus ein paar psychoanalytischen Nöten zu helfen. Was ich Ihnen sonst noch mitteile, lassen Sie einstweilen ruhig unbeantwortet. Der junge Patient, von dem ich Ihnen schon einmal schrieb, leidet von klein auf an Angst. Besonders hat er Angst, in Gegenwart eines Fremden zu sprechen und zu essen. Vor seinen Angehörigen ißt er; vor Freunden geht es noch einigermaßen, wenn er allein unter ihnen ist. Sobald er aber mit seinen Angehörigen unter
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Fremden ist (oder ein Fremder in der Familie zu Tisch), kann er nichts essen und sprechen. Er spricht auch nie mit mehreren seiner Angehörigen zugleich, sondern immer nur mit einer Person. Kommt noch jemand hinzu – so verstummt er. (Seit Beginn der Analyse ist er übrigens schon viel zugänglicher geworden.) Seine Angst vor Fremden beruht sicher zum Teil auf verdrängtem Schautrieb, der sich übrigens nur auf männliche Personen seiner Familie und auf Fremde richtete. Für das Nicht-essen-Können finde ich keine rechte Aufklärung. Übelkeit tritt dabei keineswegs auf. (Ekel besteht nur gegen ganz bestimmte Speisen – z.B. Fisch – und Getränke – Weißwein, Sekt, Kaffee). Die Angst vor dem Sprechen habe ich auf verschiedene Arten erklären wollen,
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komme aber nicht weiter. Der Widerstand ist sehr groß. Vielleicht könnten Sie mir hier ein wenig raten? Der Pat. ist sonst im Unbewußten stark homosexuell-masochistisch. Sein Hauptsymptom (wegen dessen er zu mir kam) ist der Schmerz an einer bestimmten Stelle unterm rechten Schulterblatt. Er steht mit der Angst in Zusammenhang; Schmerz und Angst stehen beide in Beziehung zu einem wollüstig-ängstlichen »Schauergefühl«. Dieses Gefühl hat er auch in gewissen Angstträumen (besonders Fallträume). Besonders aber gehört es zu seinen Beziehungen, die er als Knabe bis zum dreizehnten Lebensjahr zu seinem älteren, sadistischen Bruder hatte. (Im Bett auf einander liegen, küssen, beißen und lecken, dann prügeln; bei allem war
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Pat. meist der passive Teil.) Für die Entstehung des Schmerzes habe ich noch viel Wichtiges herausgebracht, aber seine Lokalisation bleibt bisher rätselhaft. (Nur weiß ich, daß das »Schauern« vom Damm nach jener Gegend hinaufzog. Aber warum macht es gerade hier halt?) Auf den letzten 14 Tagen, die Pat. mit dem Bruder zusammen war (er kam dann fort und beging bald danach Suizid), ruht eine fast totale Amnesie. Ich vermute, hier liegt das Wichtigste. Denn der Schmerz trat nach dem Abschied des Bruders auf. Ich kann Ihnen nicht all die andern zugehörigen Details mitteilen; der Fall ist enorm kompliziert, weil hernach noch andre Schmerzen dazu kommen, die Pat. von der Schwester
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übernahm, während sie dann gewisse andre von ihm annahm. Sein Rückenschmerz verschwand einmal auf zehn Tage, nämlich nach seinem ersten gelungenen Koitus, kehrte dann aber wieder. Außer Angst und Schmerz leidet er seit früher Kindheit an Mattigkeit resp. Schlafsucht, die mir durch Masturbation nicht genügend erklärt scheint. – Ich hoffe, Sie können sich hiernach ein ungefähres Bild machen und mir vielleicht einige Hinweise geben, in welcher Richtung ich weiter suchen muß. Für die Fisch-Abneigung habe ich gerade von einem andern Pat. eine sehr interessante Aufklärung erhalten; ich wüßte gern, ob sie allgemeinere Gültigkeit hat. Der Pat., bisexuell, mir von
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Hirschfeld zur Analyse geschickt, hat die typische Übertragung auf die Mutter und nachherige Abwendung durchgemacht. Er verlor den Vater mit sechs Jahren, schlief nun bei der Mutter und wurde durch den Menstrualgeruch abgestoßen. Daran erinnert ihn der Geruch von Fischen (besonders geräucherten und gesalzenen Heringen u. ähnl.). Haben Sie Ähnliches auch erfahren? In den Zeitschriften wird jetzt Leben. Strohmayer werde ich lesen. Stegmanns Arbeit ist auch nett. Franks habe ich noch nicht gesehen. – Hirschfeld ist der Psychoanalyse sehr zugänglich und interessiert sich z.B. sehr für meine Ergebnisse bei dem erwähnten Pat. Ich will Verschiedenes nun doch aufsparen. Also für heute nur meinen Dank im voraus und herzliche Grüße! Ihr dankbar
ergebener Abraham
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