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[Briefkopf III Berlin] 18. X. 10.
Lieber Herr Professor,
Auf Ihre freundlichen Glückwünsche zur Geburt unsres Sohnes und auf die verschiedenen Kartengrüße von der Reise habe ich Sie bisher ohne Antwort gelassen. Es war bei uns eine etwas unruhige Zeit. Jetzt sind wir in der neuen Wohnung eingerichtet, und ich kann wieder mal an etwas andres als die Einrichtungssorgen denken. Meine Arbeiten sind leider Wochen lang unterbrochen worden; Segantini wird sich also verspäten – hoffentlich nicht zu sehr. Die zwei Kongresse sind glücklich vorüber. Einer so steril wie der andre. Nur der neurologische war bösartiger. Das Referat Oppenheims über Angst brachte nicht das Geringste, was nicht in jeder populären Schrift stünde. Eigentlich war das Referat nur der Rahmen für einen lange verhaltenen Affektausbruch. O. ging so weit, daß er zum Boykott der Sanatorien, die Psychoanalyse treiben, aufrief. Hoche als Korreferent war langweilig, sonst nichts. Die Diskussion bestand hauptsächlich darin, daß eine Anzahl Sanatoriumsbesitzer aufstanden und feierlich erklärten, daß sie keine Psychoanalyse trieben. An ihrer Spitze Herr Friedländer, Ihr besonderer Freund! Sonst tat sich nur Raimann aus Wien hervor, der vorschlug, da Freud einer Diskussion ausweiche, den Feind im eignen Lager aufzusuchen (sic!) und . . . jeden mißglückten Fall einer psychoanalytischen Behandlung öffentlich bekannt zu geben. Boykott
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und Denunziation. Ich finde, die unerfreulichen Zeichen häufen sich in erfreulichster Weise. Wir anwesenden Ketzer (Koerber, Warda und ich) verhielten uns ruhig. Daß bei dem Festessen die komischen Vorträge im wesentlichen alle ein Ziel hatten, brauche ich kaum zu sagen. An einem Abend war bei Oppenheim großer Empfang. Bei dieser Gelegenheit stürzte sich Aschaffenburg auf mich und benutzte mich längere Zeit, um seine Affekte auf mich loszulassen. Er ist intelligenter als die mei- sten andern Gegner, und wurde nach Abklingen der Widerstände bedeutend zugänglicher. Ich kann bestimmt sagen, daß die ca. dreistündige Debatte nicht ohne Wirkung geblieben ist. Zuletzt plauderte er ein bißchen aus der Schule. Er halte es für möglich daß »die drei Psychopathen« Gaupp, Wilmanns und Isserlin eines Tages umfallen würden. Ich weiß nicht, ob er recht hat. Wilmanns wäre sehr wertvoll. Ich kenne ihn aus unsrer gemeinsamen Heimat Bremen und weiß, daß er ein unabhängig denkender Mensch ist. Was Oppenheims Widerstand betrifft, so will ich noch vertraulich hinzufügen, daß seine Frau an einer schweren Hysterie leidet und ihm dieses ganze Jahr damit arg zu schaffen gemacht hat, und daß er selbst vor zwei Jahren eine schwere Neurose mit Angstzuständen hatte. Daraus läßt sich sein neuerdings so sehr verstärkter Affekt ja verstehen. Nun muß ich Ihnen von Bleuler erzählen, der Stunden lang zum Abreagieren bei mir war. Seine
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Komplexe kennen Sie ja zur Genüge. Natürlich begründet er sein Fernbleiben von der Organisation mit allerhand Bedenken, hinter denen er auch mit ausgiebiger Nachhilfe die eigentlichen Gründe nicht findet. Trotzdem muß ich Verschiedenes zu seinen Gunsten sagen und möchte Sie, lieber Herr Professor, fragen, ob es jetzt nicht angezeigt wäre, ihm irgendwie entgegenzukommen, um damit gewisse Fehler wieder- gutzumachen und unsrer Sache zu dienen. Ich habe mit Bl. viel Psychoanalytisches besprochen und muß sagen, daß er ein brennendes Interesse für die Sache hat. Während der Kongresse hat er mit Kraepelin, Aschaffenburg und andern viel debattiert, und alle hielten ihn, wie ich selbst hörte, für einen vollkommen überzeugten Parteigänger. Ich glaube, dadurch nützt er der Sache mehr, als er gelegentlich durch zu große Zurückhaltung geschadet hat. Und endlich die Hauptsache: Bl. ist vor und bei der Gründung der Zürcher Gruppe ganz offenbar in schwerer Weise brüskiert worden. Sie wissen, daß ich Bl. durchaus kritisch gegenüber stehe; aber wenn man es sich in der Psychoanalyse zum Prinzip macht, die Komplexe nicht zu brüskieren, warum soll man gerade bei Bl. anders verfahren? Bl. wünscht eine Annäherung. Er ist mit sich selbst uneinig und leidet darunter. Sollte es da nicht einen Weg zur Verständigung geben? Nun noch ein erfreuliches Symptom. Ich glaube, es war
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Aschaffenburg, der mir erzählte, auf einer Reise durch Amerika sei immer die erste Frage der Ärzte gewesen: What do you think about Freud? Ich finde unser Jahrbuch II.. ganz vorzüglich. – Es sammelt sich bei mir übrigens immer mehr an, was ich mit Ihnen besprechen möchte. Vom Gegensinn der Urworte ließe sich sicher noch weitergehen. Besonders wäre die Frage nach der Bisexualität in der Sprache zu untersuchen. Aber ich will mich heute nicht weiter auf Wissenschaftliches einlassen. Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus
Ihr ergebener
Karl Abraham
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