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[Briefkopf Berlin III] 29. X. 11
Lieber Herr Professor,
Seit Weimar habe ich nichts von mir hören lassen. Aus der Einlage ersehen Sie, daß es inzwischen in unsrer Ortsgruppe einen Konflikt gegeben hat. Hirschfeld hat seinen Austritt erklärt und ist bei diesem Entschluß trotz guten Zuredens geblieben. Auf seinen Wunsch sende ich Ihnen seinen Brief mit. Es handelt sich um Widerstände, die sich an einen äußeren Anlaß knüpfen (Jungs Verhalten ihm gegenüber), aber keineswegs erst dadurch entstanden sind. In einer langen Mitgliedersitzung, in der wir über Weimar sprachen, legte er eine Unkenntnis in Bezug auf die Psychoanalyse an den Tag, die geradezu erschreckend war. Ihn hat ja ganz andreszu uns geführt. Tatsächlich ist es wohl nur die Hervorhebung des Sexuellen gewesen, die ihm die Analyse sympathisch machte, besonders in einer Zeit, da er wegen seiner Sexualforschungen angefeindet wurde. Für uns ist Hirschfelds Austritt im Grunde kein Verlust, für die Arbeit der Gruppe eher ein Gewinn; andrerseits bedaure ich seinen Entschluß aus persönlichen Gründen. Auch bei Koerber und Juliusburger hatte der Kongreß eine starke Mißstimmung erzeugt, die nun aber ziemlich überwunden ist. Um in diesem Winter unsre Sitzungen vor der Verflachung zu schützen, habe ich vorgeschlagen und durchgesetzt, daß wir die »Drei Abhandlungen«
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in Form von Referaten und Diskussionen zusammen durcharbeiten. Trotz dieser Mißlichkeiten denke ich mit großer Freude an die Weimarer Tage zurück. Was wir am letzten Tage privatim besprachen, habe ich seither weiter verfolgt und mancherlei Interessantes über die Totem-Tiere herausgebracht. Wenn es vollständiger ist, berichte ich darüber. Stekel sandte ich neulich zwei Kleinigkeiten fürs Zentralblatt. Die Ausarbeitung des Weimarer Vortrags, mit der ich beschäftigt bin, folgt bald. Dann soll ein kleiner Aufsatz kommen über ein merkwürdiges Zeremoniell: Frauen, die sich jeden Abend vor dem Schlafengehen bräutlich schmücken, und zwar für den Tod. Ich konnte einen solchen Fall ausführlich analysieren und habe einen zweiten ganz analogen Fall. – Für eine neue Sammlung »Beiträge zur forensischen Medizin« habe ich ein Heft übernommen. Es soll heißen: »Das Triebleben des Kindes und seine Beziehungen zur Kriminalität«. Über einige andre Pläne, die das Zusammensein mit Ihnen hat reifen lassen, später einmal! Ich hörte mit Befriedigung, daß unsre dritte Zeitschrift nicht den ursprünglich beabsichtigten Namen tragen soll. Im übrigen bin ich sehr gespannt auf sie. – Bleulers Dementia praecox, die ich kürzlich gelesen habe, ist so widerspruchsvoll wie der ganze Mensch. In vieler Hinsicht ist das Buch ausgezeichnet; daneben stehen dann die Halbheiten, wie sein Vortrag in Weimar sie massenhaft brachte. Ich hoffe, Sie haben die Zahnschmerzen nicht mehr mit
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nach Wien genommen und erfreuen sich mit den Ihrigen des besten Wohlseins. Ich bitte, alle von meiner Frau und mir recht herzlich zu grüßen. Herr Schönlank, den Sie im Sommer an mich wiesen, war noch nicht bei mir, während der Sohn sehr eifrig ist und gute Fortschritte macht. In der Praxis ist es noch etwas still. Mit November wird es hoffentlich lebhafter. Mit den herzlichsten Grüßen Ihr ergebener Abraham
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