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    [Briefkopf III Berlin] 11. II. 11

    Lieber Herr Professor,

    Mit diesen Zeilen geht nun das Segantini-Manuscript an Sie ab. Ich sende es Ihnen mit der Bitte um Ihre Kritik, die mir dieses Mal besonders nötig erscheint, weil es eine Arbeit ist, hinter der einige persönliche Komplexe stehen. Daneben wüßte ich noch gerne Ihre Ansicht in einer äußeren Frage: ob es zweckmäßig wäre, ein paar der Hauptwerke abzubilden, da sie ja nicht so allgemein bekannt sind wie manches von Böcklin oder andern Modernen. Ich würde etwa eins der dem Mutterkomplex zugehörigen Bilder und eins von den mystischen (die bösen Mütter) vorschlagen. Würden Sie ev. mit dem Verleger darüber sprechen, falls Sie Illustrationen für richtig halten? Wir hatten die Freude, zweimal Fräulein Bernays bei uns zu sehen. Von ihr hörte ich auch Näheres über Ihr und der Ihrigen Ergehen. Ich hoffe, Ihrem Patienten geht es so gut, wie es nach einer so unangenehmen Verletzung gehen kann. Frl. Dr. Rosenthals Arbeit wird Ihnen wohl bald zugehen; ich habe mit ihr gesprochen und sie ist mit der Aufnahme ins Zentralblatt ganz einverstanden, da die »Schriften« vorläufig wohl schon zu besetzt sind. Also könnten Sie eventuell die Mühe des Lesens sparen und das Manuskript direkt an Stekel oder Adler weitergeben. Oder ich könnte dies

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    direkt tun. Unsre Gruppe macht sich vortrefflich. Vorgestern sprach Stegmann über Asthma, ich über einen Fall von Zwangsneurose. Das Interesse ist stetig. Nächstes Mal spricht Koerber über Narzißmus. Bleulers Schrift ist im Ganzen erfreulich ausgefallen; doch fällt die zweite Hälfte sehr ab. Ich freue mich, daß in Zürich die Einigkeit wenigstens äußerlich hergestellt ist. Ich hörte in diesen Tagen manches, wodurch Bl. das Entgegenkommen wirklich aufs äußerste erschwert worden ist. Doch nun sei Ruhe. Augenblicklich befinde ich mich in einem Dilemma. Ich hatte kürzlich einer Kollegin erzählt, daß ich in einem Falle von leichter zirkulärer Psychose in ganz frappanter Weise männliche und weibliche Perioden gefunden habe. Sie erzählte Fließ davon, mit dem sie befreundet ist, und teilte mir einige Tage darauf mit, daß Fl. mich bitten lasse, ihn aufzusuchen. Ich möchte einerseits nicht unhöflich sein; andrerseits ist es mir unsympathisch, mir einem Menschen gegenüber so große Reserve auferlegen zu müssen, wie es in diesem Falle nötig ist. Zum Schluß noch ein kleines Satyrspiel, aus der Ziehenschen Klinik: Vorstellung einer Zwangsneurose. Der Pat. hat die Zwangsidee, er müsse auf der Straße Frauen unter die Röcke grei- fen. Ziehen zum Auditorium: »Meine Herren, wir müssen genau prüfen, ob es sich hier um eine sexuelle Zwangsidee handelt. Ich werde den Patienten fragen, ob er den Impuls auch bei älteren Frauen fühlt.« Der Pat. auf Befragen: »Ach, Herr Professor, sogar bei meiner eignen Mutter und Schwester!«. Darauf Ziehen: »Sie sehen, meine Herren, daß hier gar nichts Sexuelles im Spiele sein kann.« Zum Assistenten: »Protokollieren Sie: Pat. leidet an einer nicht sexuellen, sondern sinnlosen Zwangsidee!«

    Mit herzlichen Grüßen von Haus zu Haus Ihr Abraham