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Berlin, 10./XI. 09
Lieber Herr Professor,
Jetzt heißt’s abreagieren! Vorgestern war die Schlacht in der Neurologischen Gesellschaft. Die »Traumzustände« fanden eine weit schlimmere Aufnahme, als ich erwartet hatte. Freilich hatte Ziehen als Vorsitzender in recht perfider Weise alles getan, um meinen Vortrag nicht zur Geltung kommen zu lassen. Solange ich sprach, hatte ich nur Gesichter mit dem bekannten überlegenen Lächeln vor mir. Ziehen unterband dann jede Diskussion und erteilte sich nur selbst das Wort zu einem kurzen, aber wütenden Ausfall gegen mein »Sammelsurium«. Ich habe noch bei keinem Neurotiker den Widerstand so plump und schlecht verhüllt gesehen. Ich antwortete nur, daß ich
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bei Z.s Voreingenommenheit auf eine Replik verzichte. Sehr charakteristisch: der einzige Kollege, der die Sache objektiv ansah, war – wie ich im Privatgespräche erfuhr – ein Chirurg, der sich in diese Sitzung verirrt hatte. Der Mann kann seine Aggressionsgelüste mit dem Messer befriedigen und ist nicht wie die Neurologen darauf angewiesen, sich in kleinen Gehässigkeiten Luft zu machen. Sonst geht es mir aber gut, und ich hoffe sehr, bei Ihnen ist es längst auch wieder der Fall. Meine Frau und ich haben es sehr bedauert, daß wir Ihnen unter den obwaltenden Verhältnissen so wenig Gastfreundschaft bieten konnten. Aber den herzlichsten Dank für die Stunden, die Sie uns geschenkt haben, will ich Ihnen noch einmal aussprechen.
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Von meiner Praxis kann ich berichten, daß das Publikum sich allmählich mehr von selbst einstellt. Im Laufe der nächsten Monate bin ich auch wieder in mehreren großen Prozessen als Sachverständiger tätig, u.a. werde ich wahrscheinlich ein spiritistisches Medium zu begutachten haben, von dessen Entlarvung viel in den Zeitungen stand. – Sehr amüsant ist es, daß seit kurzem zwei Nervenärzte in meine unmittelbare Nähe gezogen sind, und daß ein dritter diesem Beispiel folgen wird. Was man auch erreicht – die Psychoanalyse darf nie die Schuld daran sein. Dieses Mal ist es also die Stadtgegend! Ein russischer Kollege namens Wulff, der längere Zeit unter Juliusburger Assistent einer Privatanstalt war, läßt sich jetzt in Odessa nieder. Er ist für die Psychoanalyse sehr interessiert und hat seine letzte Stelle
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in Berlin dadurch nach wenigen Wochen verloren. Ich kenne ihn als fleißigen und vertrauenswürdigen Menschen, der sich aber in sehr mißlichen materiellen Verhältnissen befindet. Vielleicht ist es Ihnen (oder einem der Kollegen dort) möglich, ihm gelegentlich Patienten zuzuweisen? Ich vermute, er wird sich auch persönlich an Sie wenden, da er mich um Ihre Adresse gebeten hat. Er möchte außerdem, wie ich von Juliusburger höre, Übersetzungen ins Russische machen. Mit herzlichen Grüßen, auch für die werten Ihrigen Ihr ergebener
K. Abraham
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