-
S.
[Briefkopf II Berlin] 16. V. 09.
Lieber Herr Professor,
Wenn dieser Brief Sie erreicht, sind die verschiedenen Krankheiten, von denen Sie vor einigen Wochen schrieben, hoffentlich längst überstanden. Ich beantworte Ihren Brief erst heute, weil ich Ihnen über meinen Vortrag in der Psychologischen Gesellschaft – unter Molls Vorsitz – berichten wollte. Es ist kein Verein von Fachleuten, sondern ein ziemlich gemischtes Publikum. Ich sprach über »Kindheitsphantasien im Seelenleben des Erwachsenen«. M. war sehr liebenswürdig (wie immer) und erklärte, sich an der Diskussion nicht beteiligen zu wollen, weil seine Entgegnung wohl zu temperamentvoll ausfallen würde!
-
S.
Mir war es erwünscht, daß auf diese Weise Reibereien vermieden wurden. M. erzählte auch von seinem Besuch bei Ihnen, natürlich ganz anders, als Sie mir davon berichtet haben. Ich werde mich in Zukunft so sehr wie möglich von ihm zurückhalten. Dieser Typus paßt mir nicht, und ich erfahre auch von andrer Seite immer mehr Ungünstiges über seinen Charakter. Seine Rolle in der Patienten- Fang-Affäre nimmt auch gegen ihn ein. In der Diskussion zeigte einer der Redner, der Psychologe Vierkandt, ein ziemlich gutes Verständnis. Am meisten in Ihrem Briefe erfreute mich die Aussicht, Sie im Herbst hier zu sehen. Vielleicht darf ich schon jetzt bitten, daß die Zeit nicht gar
-
S.
zu knapp bemessen ist! Ich freue mich so sehr darauf, und im Laufe der Zeit sammelt sich so vieles, was ich mit Ihnen besprechen möchte! Meine Praxis, die sich ja von Anfang an günstiger entwickelte, als ich hoffen durfte, nimmt in letzter Zeit einen Aufschwung, der mich selbst verwundert. Ich habe den größten Teil des Tages mit fortlaufenden Behandlungen besetzt; zu morgen stehen neun Patienten auf der Liste, von denen sechs psychoanalytische! Das hätte ich mir vor eineinhalb Jahren nicht träumen lassen. Freilich sucht das Publikum mich noch nicht. Die meisten Behandlungen verdanke ich andern Ärzten oder sonstigen Beziehungen. Von Oppenheim hatte ich, da er viel krank oder verreist war, mehrere Monate
-
S.
lang keine Unterstützung mehr gehabt, und trotzdem erlitt die Praxis in dieser Zeit keinen Rückgang. Ich sehe übrigens jetzt, daß die Psychotherapie eine recht anstrengende Sache sein kann, und mit der vielen freien Zeit zum privaten Arbeiten ist es auch aus, wenn’s so bleibt. Wenn die Finanzen es erlauben, möchte ich im Hochsommer gern mit meiner Frau und unsrer Kleinen ein paar Wochen hinaus. Sind Sie schon entschlossen, wohin Sie gehen? Vielleicht wäre doch eine Begegnung in den Ferien möglich. Ranks Buch gefällt mir sehr. Bedauert habe ich nur, daß die Sintflut nicht etwas ausführlicher behandelt ist. Sie hat ja so viele Beziehungen zu den Geburtssagen. Zudem zeigt sie – wenigstens
-
S.
in der biblischen Überlieferung – so besonders schön die Wirkungen der Verdrängung. Es wäre vielleicht einmal ein Thema für sich. Glauben sie nicht auch, daß sich einmal die spezielle Bearbeitung der Straßenangst lohnen würde? Ich habe gerade mehrere solche Fälle, die die Fixierung auf die Mutter oder Vater sehr schön zeigen. In einigen Beziehungen wüßte ich gern Ihre Ansicht. Ich finde bei diesen Patienten, daß sie im Angstzustand sehr klein zu sein glauben, am liebsten auf allen Vieren weiter kriechen möchten und dabei den Eindruck haben, die andern Menschen seien furchtbar groß. Hier ist ja die Phantasie – ein Kind sein, das sich nicht fortbewegen kann –
-
S.
durchsichtig. Nun beschreiben aber manche solche Pat., es sei, als wenn sie in sich zusammenschrumpften, in die Erde versänken. Zu Hause schließen sie sich in einen möglichst engen Raum ein. Ich vermute, daß es sich um den Wunsch handelt, Embryo zu sein resp. in den Mutterleib zurückzukehren. Billigen Sie diese Auffassung? Auf meine Fälle paßt sie sehr gut. Die Beantwortung dieser Frage ist natürlich nicht eilig. Manches andre aus der Praxis würde ich Ihnen, lieber Herr Professor, gern vorlegen, aber jeder Brief muß doch ein Ende haben. Nehmen Sie also nur noch die herzlichsten Grüße Ihres ergebenen
Karl Abraham
Schöneberger Ufer 22
Berlin 10785
Duitsland
Berggasse 19
Wien 1090
Oostenryk
C15F3