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    [Briefkopf II Berlin] 7. IV. 09.

    Lieber Herr Professor,

    Seit wenigen Tagen ist das sehnlich erwartete Jahrbuch in meinen Händen; es wurde für den deutschen Buchhandel erst vor einer Woche ausgegeben. Ihre Analyse habe ich in einem Zuge gelesen und stehe noch ganz unter diesem Eindruck. Andre Meinungen habe ich noch nicht gehört; da ich im voraus weiß, wie sie lauten, bin ich auch nicht neugierig. Es ist doch eine große Genugtuung, das aus den Analysen Erwachsener Erschlossene beim Kinde so deutlich wiederzufinden; dieses Gefühl spricht ja aus jeder Zeile. Es ist immerhin eine kleine Entschädigung für das

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    mangelnde Verständnis der Fachgenossen. – – Auffallend ist, daß der übrige Inhalt des Bandes ganz der Zürcher Schule entstammt. Maeders Arbeit halte ich für sehr wertvoll. Über Jungs Beitrag hatte ich vorher viel gehört und daher etwas ganz Originelles erwartet. Leider hat er mich etwas enttäuscht, weil er der Frage eigentlich keine neuen Gesichtspunkte abgewinnt. Sind Sie übrigens auch der Meinung, daß der Vater so sehr das Übergewicht hat? In manchen meiner Analysen ist es entschieden die Mutter; in andern kann man nicht entscheiden, ob Vater oder Mutter von größerer Bedeutung ist. Mir scheint das sehr von individuellen Verhältnissen abzuhängen. Binswanger ist leider allzu 

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    weitschweifig. Wieviel wird da noch im nächsten Bande kommen? Ich finde es übrigens technisch verkehrt, die zweite Hälfte einer Analyse nach einem halben Jahr zu bringen. Wer den ersten Teil jetzt liest, wird doch den zweiten später nicht verstehen. Daß die Amerika-Fahrt nun doch zustande kommt, hat mich sehr erfreut; die Leute, denen ich in Ihrem Sinne davon erzählte, haben sich aber leider nicht genug geärgert. Führt übrigens die Hin- oder Rückreise über Berlin? Das interessiert mich an der Sache ganz besonders. Hier rührt sich noch immer nichts. Nur Juliusburger ist sehr interessiert und analysiert fleißig. In der letzten Zeit freilich hat er sich selbst bei mir 

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    einer Analyse unterzogen; sie förderte ganz eigenartige Resultate zu Tage. Er ist augenblicklich verreist; es ist nicht ausgeschlossen, daß er Wien passiert. (Ursache der Analyse war ein nervöser Angstzustand; diese Mitteilung natürlich diskret!) Kürzlich besuchte mich Eitingon; er war wie immer geladen mit den schönsten Beobachtungen; leider verwertet er sie nicht literarisch. Er machte mich auf eine Stelle in der zweiten Auflage der Traumdeutung aufmerksam. Die Fußnote auf S. 181 enthält zwei Fehler (»vergleichende Seelenkunde« und »1809«). Bezüglich der falschen Jahreszahl habe ich eine Vermutung. Aber warum ist gerade der arme Rank das Opfer des doppelten Fehlers? Was Sie über Oppenheim schreiben, 

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    trifft durchaus zu. Man muß ihn aber doch milder beurteilen. Er hat im vorigen Sommer eine Krankheit durchgemacht, die den behandelnden Ärzten damals ganz unklar blieb und in tiefes Geheimnis gehüllt wurde. Ich hatte damals nach der Beschreibung den Eindruck einer schweren Angstneurose oder -hysterie. Seither verdrängt O. mit großer Energie, hat aber häufig mit allerhand körperlichen Symptomen zu tun. Kurz – man kann seine Ablehnung verstehen. Ich bitte Sie, lieber Herr Professor, auch diese Mitteilung als vertraulich anzusehen. – Die Analyse bei dem jungen Manne, von der ich wiederholt schrieb, hatte bereits zu sehr schönen therapeutischen Resultaten geführt, als sie durch ein 

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    Familienereignis jäh unterbrochen wurde. Der Patient wird sie aber in einigen Wochen wieder aufnehmen. Inzwischen habe ich zwei neue angefangen und bemerke, wie ich aus jeder Behandlung für das Verständnis der folgenden Nutzen ziehe. Einer Symptomhandlung bin ich bei mir selbst auf die Spur gekommen. Während ich analysiere und auf die Antwort des Patienten warte, werfe ich oft schnell einen Blick auf das Bild meiner Eltern. Ich weiß jetzt, daß ich es immer tue, wenn ich beim Pat. der infantilen Übertragung nachgehe. Bei dem Blick hatte ich immer ein gewisses Schuldgefühl: was werden sie von Dir denken? Natürlich handelt es sich um die nicht ganz leicht erfolgte Ablösung. Seit ich mir die Symptomhandlung 

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    erklärt habe, konnte ich mich nie mehr bei ihr ertappen. – Noch eine Beobachtung bei unserer Kleinen, die zwei Jahre, vier Monate alt ist. Ich mußte ihr zweimal ein Glycerin-Klysma machen. Seitdem erklärt sie mir alle Tage, daß sie keine Spritze haben wolle, sagt das aber ohne wirklichen Affekt, und meist sogar mit einem schelmischen Lächeln. Also wünscht sie offenbar die Spritze. Sonst zeigt sie keinerlei analerotische Neigungen. Damit sei’s für heute genug. Mit herzlichen Grüßen Ihr ergebener
    Abraham