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    [Briefkopf II Berlin] 14. II. 09.

    Lieber Herr Professor,

    Haben Sie zuerst vielen Dank für Ihren Ratschlag; er hat sich vollkommen bewährt. Ich habe die Furcht vor dem Essen und verschiedene andre Symptome meines Pat. mit Hilfe der Anal- erotik aufklären können. Zwei Sitzungen hindurch gab es noch erbitterten Widerstand, dann kamen die Einfälle in Hülle und Fülle. Ich glaube, daß ich mit einem besonders schwierigen Fall zu tun habe, bei dem die bewährte Methode, den Pat. seine Einfälle kritiklos vorbringen zu lassen, versagt. Er ist ganz intelligent, erklärt sich aber hartnäckig für dumm und behauptet, wenn ich ihn auffordere, mir in obiger Weise Einfälle zu bringen, so komme jedes Mal 

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    die Angst, etwas Dummes zu sagen, und die auch sonst vorhandene Abneigung gegen das Sprechen. Ich hoffe, das wird sich ändern, wenn ich letzteres Symptom aus der Analerotik erklärt habe. Die Vorstellung, er sei dumm, kommt hauptsächlich daher, daß sein sadistischer Bruder ihn – er ist Masochist – beständig als den Dummen hingestellt hat. Der Wunsch nach den körperlichen und psychischen Mißhandlungen seitens des inzwischen durch Suizid geendeten Bruders durchzieht die ganze Krankheit. Leider ist es so schwer, diese Dinge brieflich zu besprechen. Kommen Sie nicht bald nach Berlin? Ich nehme an, daß Sie bisher durch familiäre Gründe von Wien nicht fortkonnten. Da in diesem Jahre kein Kongreß sein soll, wäre es sehr schön, wenn ich Sie bald 

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    einmal in Berlin sehen könnte. Unsre wissenschaftlichen Abende waren meist recht anregend, trugen aber zum großen Teil mehr allgemein sexualwissenschaftlichen Charakter. Immerhin war doch das Interesse für die Psychoanalyse lebhaft. Hirschfeld hat jetzt eine längere Erholungsreise angetreten, die ihn wohl auch nach Wien führen wird. Er sowohl wie Bloch sind für unsre Bestrebungen sehr empfänglich, können sie aber natürlich nicht zu ihrem Hauptinteresse machen. In dieser Beziehung ist Juliusburger sehr zu rühmen. Er ist nicht nur ein sehr sympathischer, zuverlässiger und treuer Mensch, sondern er hat sehr feines psychologisches Verständnis und steht vollkommen zu unsrer Sache. Sie haben wohl seine letzte Publi

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    kation erhalten. Er sucht in der Privatanstalt, in der er tätig ist, auch die andern Kollegen dafür zu interessieren. Einer, namens Wulff, ist schon sehr gut beschlagen. Wir haben hin und wieder Zusammenkünfte, in denen wir unsre Erfahrungen austauschen und besonders die Psychoanalyse für die Psychiatrie zu verwerten suchen. Ich habe vor, wie in diesem, so im nächsten Semester wieder in der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Nervenkrankheiten einen Vortrag zu halten. Ich glaube, ein halbes Jahr ist das richtige Intervall, wüßte aber gern, wie Sie darüber denken. Ich möchte die Leute nicht ermüden – dadurch würde ich der Sache sehr schaden. Es regt sich überall. Vom Jahrbuch will ich ganz absehen. Die Arbeit von 

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    Frank »Zur Psychoanalyse« ist neu; sie steht in der Festschrift für Forel (Sonderheft des Journal für Psychologie und Neurologie). Stegmann (Asthma bei Kindern) ist in der »Medicinischen Klinik« 1908, No 29 erschienen. Im Centralblatt von Gaupp ist eine recht blödsinnige Kritik Ihrer Theorie der Zwangsneurose erschienen: der Verfasser ist ein Russe namens Skliar; er hat in einer andern Zeitschrift noch etwas Ähnliches losgelassen. – Die Einladung nach Amerika ist doch ein sehr erfreuliches Ereignis – schade, daß Sie ihr nicht nachkommen können. Übrigens noch etwas Bemerkenswertes: Bleuler hat im Centralblatt einen kleinen Artikel veröffentlicht, in dem er wie- der einmal zu Ihren Gunsten Stellung nimmt. Dies ist freilich nur Nebensache in dem 

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    Artikel; zu einem ausführlichen Eingehen bot das Thema keinen Anlaß. Die Praxis geht recht zufriedenstellend, sie scheint sich ohne allzugroße Schwankungen in ruhiger Progression zu entwickeln. Vorige Woche suchte mich der Baumeister aus Breslau auf, den Sie vor über einem Jahre an mich gewiesen haben. Er wird wohl Ende Februar zur Behandlung auf einige Zeit nach Berlin kommen. Die Prognose ist zweifelhaft; er erklärte mir, von seiner Sexualbetätigung (sadistische Phantasien) nicht lassen zu wollen. Auch könnte eine Dementia praecox dahinter stecken. Ich habe ihm acht Tage Probe angeraten. Von einer russischen Zeitschrift bin ich aufgefordert worden, einen kurzen Artikel über die Psychoanalyse zu liefern und werde es wohl auch übernehmen. 

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    – Schon früher schrieb ich Ihnen einmal von meinem Wunsch, die traumatische Neurose zu bearbeiten. Darüber würde ich sehr gern mit Ihnen sprechen. Ich halte das Thema für sehr wichtig, denn bis jetzt wird sie doch immer als Gegenbeweis gegen die sexuelle Grundlage der Neurosen angeführt. Ich halte es nun für sicher, daß es sich hier um eine Sexualneurose handelt. Sobald es mir opportun scheint, werde ich mir in der Oppenheimschen Poliklinik weiteres Material suchen. Halten Sie diese Arbeit nicht auch für wünschenswert? Seit einiger Zeit fesselt mich noch ein andres Thema sehr – das wäre eine psychoanalytische Studie über Giovanni Segantini, dessen Persönlichkeit und Werke sich erst mit Hilfe der Sexualtheorie verstehen lassen. Ich 

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    würde auch darüber gern mündlich sprechen. Es ist erstaunlich, welche Rolle hier die Sublimierung der Partialtriebe, die Verdrängung der Inzestphantasie, die Übertragung auf nicht-menschliche Objekte etc. spielen. Zum Schluß noch eine Frage betr. den Fuß-Fetischismus. Die symbolische Bedeutung von Fuß und Schuh ist mir bekannt, sie genügt aber doch nicht. Nun habe ich gerade einen Fall kennen gelernt (sechsjähriges Mädchen), in dem der Fuß große Bedeutung hat. Hier übten Schwester und Bruder gegenseitige Onanie durch Berühren der Genitalien mit dem Fuß. Haben Sie vielleicht Erfahrung darüber, ob das eine häufige Form ist? – Und könnte ihr Bedeutung für die Erklärung des Fuß-Fetischismus zukommen? – Nun habe ich Sie wieder recht gequält, lieber Herr Professor. Ich schließe mit herzlichen Grüßen für Sie und die werten Ihrigen. Ihr ergebener Abraham