• S.

    [Briefkopf III Berlin] 25. XII. 11.

    Lieber Herr Professor,

    Die Ruhe der Weihnachtstage läßt den lange gehegten Vorsatz, Ihnen zu schreiben, zur Ausführung kommen. Ihre Nachrichten kann ich zunächst wieder mit Gleichem beantworten. Unser Grüppchen hat abermals zwei »Verluste« erlitten. Auf meine Aufforderung, den erhöhten Jahresbeitrag zu zahlen, sind Warda und Strohmeyer prompt ausgetreten. Ich kann nicht behaupten, daß unser wissenschaftliches Leben dadurch berührt würde. Trotz allen persönlichen Schwierigkeiten – z.B. hält sich Juliusburger seit dem Kongreß schmollend zurück – scheint es mir besser als vorher zu sein. Eigentlich sind wir ja nur fünf Leute, d.h. Eitingon, Koerber, Stegmann und ich, und meistens eine sehr gescheite junge Ärztin, Frau Dr. Horney, die ich vor zwei Jahren von einer ziemlich schweren Hysterie geheilt habe. Sie ist sehr eifrig und wird sich, sobald sie genügend eingearbeitet ist, als Analytikerin etablieren. Was mir fehlt, ist jemand, der sich nicht bloß rezeptiv verhielte. Berlin ist ein gar zu steriler Boden. Auch der bevorstehende Rücktritt Ziehens wird kaum etwas ändern, denn jeder Nachfolger wird sich ja auch wieder refraktär verhalten. Einiges Löbliche ist von der Krausschen inneren Klinik zu sagen, in der mehrere Ärzte immerhin ein teilnehmendes Interesse zeigen, indem sie zu unsern Sitzungen kommen. Eher höre ich Günstiges 

  • S.

    aus nicht-ärztlichen Kreisen. So weiß ich, daß der Direktor der hiesigen Nationalgalerie und seine Mitarbeiter meinen Segantini durchaus akzeptiert haben. Gegenwärtig findet Ihr Leonardo dort ein sehr lebhaftes Interesse. Unter Pädagogen und Juristen ist das Interesse auch deutlich im Zunehmen. Vor ein paar Abenden habe ich auf Aufforderung des russisch-medizinischen Vereins (= russische Ärzte, die sich hier zur Fortbildung aufhalten) vor einem ziemlich großen und sehr aufmerksamen Auditorium über »Die Praxis der Psychoanalyse« gesprochen. Die neue Zeitschrift ist, wie Rank mir schrieb, nun gesichert. Dieses Unternehmen ist so recht nach meinem Sinn. Ich bereite eine Arbeit vor, die in der Richtung Ihrer augenblicklichen Interessen liegt; ich möchte aber noch nichts davon sagen, ehe ich weiß, ob die Durchführung gelingt. Die tatsächlichen Fortschritte unsrer Forschung werden uns vorläufig ja noch für den geringen Erfolg nach außen entschädigen müssen. Ich möchte wünschen, daß das kommende Jahr mindestens nach dieser Richtung Ihnen recht viel Erfreuliches brächte. Das andre wird schon nachkommen; daß es überall gärt, kann ja keinem Zweifel unterliegen. Übrigens – meine guten Wünsche beziehen sich für Sie und die Ihrigen, nicht bloß auf die Psychoanalyse. Noch eine Frage: Könnte die Dissertation von Reik über Flaubert, von der ich Teile im »Pan« las, nicht in den Schriften zur angewandten Seelenkunde erscheinen? Mit vielen herzlichen Grüßen – auch von meiner Frau – für Sie und Ihr Haus Ihr Abraham