• S.

    [Briefkopf Wien] 17. II. 1928.a

    Lieber Max!

    Die beiliegenden Briefe an Sarasin,1 Oberholzer und Pfister2 sind meine Reaktion auf das Memorandum Oberholzer-Brun3, das gewiß längst in Ihren Händen ist. Ich lasse die Briefe an Sie abgehen anstatt an die Adressaten, weil ich annehme, daß Sie mit den Schweizern korrespondieren, und ich doch nicht eigenmächtig dazwischenkommen möchte. Mit den Briefen können Sie verfahren, wie Sie wollen, d. h. sie alle oder einen wegwerfen oder bei sich behalten und sich auf einzelne Äußerungen berufen oder endlich, was vielleicht weder wahrscheinlich noch ratsam wäre, sie befördern. Auf den Plan, den ich im Brief an Sarasin ausgeheckt habe, bin ich nicht einmal sehr stolz. Ich glaube, wir können von hier aus die persönlichen Beziehungen schwer beurteilen und machen uns unausführbarer Vorschläge schuldig. Wenn Sie diese Briefe überhaupt nicht brauchen können, so erfahren Sie wenigstens selbst daraus, wie ich über die Sache denke.

    Ich hatte eine nicht besonders gute Zeit, eine heftige Konjunktivitis4 des einen Auges, unbekannt woher, hat mich recht geplagt und fängt erst jetzt an, sich zu bessern. Auch empfand ich in dieser Zeit die tägliche Arbeit und die dazwischenlaufenden Geschäfte schwerer als sonst.

    Storfer war eben bei mir und hat mir eine Absicht vorgetragen, mit der ich sehr einverstanden bin, nämlich alle noch nicht wieder abgedruckten Publikationen, also ‚Laienanalyse‘, ‚Illusion‘ usw., mit dem bisherigen Vorrat in einen XI. Band zu stecken und das Register, das nicht so bald fertig werden wird, als XII. Band in die Zukunft zu schieben.5 Wenn ich vernünftig bin, so halte ich meine Produktion zurück, so daß sie diesen Rahmen nicht mehr überschreitet.

    Vor einigen Tagen hatte ich ein Gespräch mit Reik, aus dem mir ein peinlicher Eindruck zurückblieb.6 Ich hielt ihm manches tadelnd vor, was er anzunehmen nicht verweigerte, konnte ihm aber für seine schwierige Situation keine Hilfe versprechen. Er hat ebensoviel Unlust nach Paris als nach Berlin zu gehen, zieht eine Expedition nach Amerika in Betracht und möchte am liebsten in Wien bleiben. Ich weiß nicht, woher in Wien eine Veränderung seiner Lage kommen kann. Am bedauerlichsten schien mir die Ahnung seiner großen inneren Zerfahrenheit und einer gewissen verbitterten Verzweiflung. Wenn wir Mittel besäßen, wäre das ein Fall, einen leistungsfähigen Menschen durch Anweisung einer theoretischen Funktion dauernd zu sanieren.

    Ich grüße Sie und Mirra herzlich.

    Ihr Freud

    Dieb Unterschrift Papas sieht nur so fremd aus, weil er mit meiner Feder unterschrieben hat. – Wie gefällt Ihnen das Memorandum? Es klingt sehr ehrlich, Pfister gegenüber begreiflich; in der Laienfrage sehr engherzig und nicht sehr aufrichtig; weicht der Frage der Therapie durch Laien ganz aus. Aber es wäre doch sehr schade um die Schweizer Ärzte.

    A[nna]

     

    a Masch.

    b Dieses Postskript in Handschrift A. Freud.