• S.

    [Briefkopf Wien] 13. 2. 12

    Lieber Herr Doktor

    Ihr Argwohn ist unberechtigt. Ich konnte gar nicht anders als Sie uneingeschränkt loben wegen der Art, wie Sie die Analyse bei Frau Dr. Nacht eingeleitet haben. Die Anfrage, die Sie dann an mich richten, ist sehr scharfsinnig und Ihre Vermutung vollberechtigt. Das „Abgleiten“ ist nichts für Dementia praecox Charakteristisches, kommt bei jeder „besseren“ Zwangskrankheit vor und führt sich auf einen großen Widerstand zurück, mit dem alles, was Arbeit der Kur ist, vorläufig von der Realität abgehalten wird. Gewöhnlich ist es der Widerstand des „Unglaubens“, der sich aus den Bedingungen von Zwang und Zweifel so leicht ergibt.

    Ihnen Patienten zu überweisen, wäre ich gerne bereit; vorläufig danke ich Ihnen meinen interessantesten Fall, denn das ist die Nacht, keine andere Kur macht mir soviel Vergnügen – wenn ich vom therapeutischen Standpunkt absehe. Die Sache geht bis jetzt ideal, der Fall ist beinahe völlig aufgeklärt, ihr Benehmen ist sehr merkwürdig. In Träumen bestätigt sie alles, im Wachen versteht sie es vortrefflich, spürt aber nichts dabei, läßt alles mit Hilfe der großen Widerstände (Unglauben) an sich abgleiten. Ich habe eine glänzende Position, da ich erklärt habe, sie wolle nicht gesund werden aus Rachebedürfnis, das sich sofort wegen meines schlechten Empfanges auf mich übertragen.1 Nächstens wird es wohl zum Kampf auf dem Schlachtfeld der Übertragung kommen, und dann wird man ermessen können, ob Heilungschancen sind;a freilich wird auch die Durchsichtigkeit des Falles dann verloren gehen.

    Sie hat unlängst geäußert: Ich merke, daß mir bereits alles unmöglich ist; mir ist nichts mehr indifferent, außer vielleicht, ob der Tag warm oder kalt ist. D. h.: mir ist jeder Tag recht, und ihr Mann heißt Nacht!

    Beiliegend die gewünschte Biographie. Ich bitte Sie zu streichen, was Ihnen unangemessen ausführlich erscheint.

    Herzlichen Gruß von

    Ihrem Freud

     

    a Bei diesem Satz steht ein über zwei Zeilen (von „Schlachtfeld“ bis „Heilungs-“) gehendes, mit Bleistift geschriebenes Fragezeichen; vermutlich von Eitingons Hand.