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S.
[Briefkopf Wien] 6. 2. 19381
Lieber Freund
Ich habe mich oft verständnislos gefragt, ob es unvermeidlich ist, daß Zeitungen so regelmäßig und uneingeschränkt lügen müssen. Jedenfalls gut zu wissen, daß Sie den Nachrichten auch diesmal nicht geglaubt haben.2 Unsere in ihrer Art brave und tapfere Regierung ist gegenwärtig energischer in der Abwehr der Nazi als je zuvor, obwohl angesichts der letzten Vorgänge in Deutschland niemand sicher sein kann, wie es ihr ausgehen wird.3
Meine letzte Operation bei Pichler vor zwei Wochen4 hat die gewöhnlichen Reaktionen hervorgerufen, aber seit einer Woche arbeite und – kaue ich wieder. Da der histologische Befund des entfernten Gewebes diesmal suspekt war, droht P. mit einer Nachoperation in nächster Zeit, hat sich aber noch nicht dafür entschieden. Das ist natürlich nicht angenehm, aber die Operation selbst ist dank der Evipannarkose in idealer Weise schmerzlos und ungefährlich geworden, und an mehr als an das Nächste braucht man nicht zu denken.
Wir verfolgen mit großem Unbehagen die Berichte über alle Vorgänge im „Heiligen Land“.5 Ich höre gern, daß Mirra trotzdem munterer ist.
Man kann nicht umhin, gelegentlich an den Meister Anton in einem von Hebbels Dramen zu denken, der das Stück mit den Worten beschließt: Ich verstehe diese Welt nicht mehr.6 Haben Sie gelesen, daß es den Juden in Deutschland verboten werden soll, ihren Kindern deutsche Namen zu geben? Sie werden nur mit der Forderung antworten können, daß die Nazi auf die beliebten Vornamen Johann, Josef und Marie verzichten.
Herzlich Ihr Freud
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S.
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