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    [Briefkopf Wien] 21. XI. 26

    Lieber Max

    Habe heute, Sonntag abends, das Bedürfnis, mich mit Ihnen zu unterhalten, ohne dringenden äußeren Anlaß. Wenn es nicht der ist, daß Reik gebeten hat, ihn zum Redakteur der ‚Imago‑Bücherei‘ zu ernennen. Es ist keine einträgliche Stellung und derzeit gewiß eine Sinekure, aber er scheint einen symbolischen Wert darauf zu legen; ich unterbreite Ihnen seinen Wunsch. Ferner, daß ich unlängst das Harzer Memoire über die Telepathie gesucht, es nicht gefunden und mich dann unsicher erinnert [habe], es sei bei Ihnen in Berlin.1 Wenn so, dann nehme ich es Weihnachten mit. Aber das sind keine rechten Motive.

    Entscheidender scheint mir die Tatsache, daß Briefschreiben die einzige Art von Produktivität ist, die sich mir noch zur Verfügung stellt. Keine andere mehr. Ich habe zwar einige Male den Versuch begonnen, etwas zu bearbeiten. Aber kennen Sie die reizende Geschichte vom König Teutobuch aus A. France’s ‚Livre de mon ami‘?2 Sein Pierre Nozière – das ist wohl er selbst – beschließt, in Gemeinschaft mit einem Freund, eine Geschichte von Frankreich in 50 Bänden zu schreiben, die aber auch alles enthalten soll. Die erste Figur, die ihnen entgegentritt, ist die des Königs T., der ein Riese war von 30 Ellen. Man weiß es, weil zufällig seine Knochen gefunden worden sind. Dieser Riese schreckt aber die beiden Autoren so ab, daß ihr Plan unausgeführt bleibt. Genauso geht es jetzta mir; ich stoße bei jeder Arbeit bald auf einen Teutobuch und breche eingeschüchtert ab. Mitunter meine ich, ich würde eher standhalten, wenn Katarrhe undb Prothese mich weniger quälten, aber wer weiß, ob das wahr ist. Die Arbeiten der letzten Jahre sind unter ärgeren Plackereien geschrieben worden.

    Das erfreulichste Ereignis dieser Zeit ist Annas Kurs über Technik der Kinderanalyse. Ich vermute, daß sie Ihnen genug darüber mitteilt.3 Aber es ist wirklich das allgemeine Urteil, daß sie klar und geläufig, unter voller Beherrschung des Gegenstandes vorträgt und daß sie das Auditorium zu fesseln versteht. Sie pflegt mir den Inhalt jeder Kursstunde am Abend vorher zu erzählen, und ich bin besonders zufrieden damit, daß sie nicht nach Schülerart anderswo Gelerntes zu applizieren sucht, sondern den Stoff unbefangen auffaßt, selbständig beurteilt und seine Eigenart zur Geltung bringt. Mit denen der Klein4 verglichen, sind ihre Anschauungen konservativ, ja reaktionär zu nennen, aber es steht zu vermuten, daß sie recht hat.

    Wir halten an der Absicht, Weihnachten in Berlin zu verbringen, fest – wenn es mir nicht viel schlechter geht. Ich bitte Sie, bereiten Sie die Leute vor, nichts von mir zu erwarten. Glauben Sie mir, daß ich seit Semmering unglaublich viel leistungsunlustiger geworden bin. Manchmal glaube ich mir selbst nicht, daß ich jetzt so verschieden bin von dem, der ich war. Es scheint aber doch so. Ich verspreche, nicht zu klagen, unter der Bedingung, daß man mir Ruhe läßt.

    Mit herzlichen Grüßen für Sie und Mirra

    Ihr Freud

     

    a Gestrichen: mehr.

    b Gestrichen: Schnupf.