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S.
[Briefkopf Wien] 20. 6. 1927.
Semmering
Lieber Max
Dank für Ihre Begrüßung hier oben!1 Ich schicke Ihnen heute zwei beigelegte Briefe zurück und füge einige Zeilen bei.
Ich habe nur noch diese Woche mit [U.] zu tun. Er geht dann nach Kiel und Schweden. Er macht sich besser, gibt sich Mühe; zweifelhaft, ob solcher Fall für Analyse sehr günstig ist. Im Juli und August werde ich völlig frei sein. Ende des Monats geht auch Minna auf eine Schweizerreise und macht Oli und Familie Raum. Das Zusammenleben zwischen den beiden Villen2 gestaltet sich sehr behaglich.
Sonst habe ich allerlei Gründe, unzufrieden zu sein. Die neue Prothese habe ich als unverträglich mit meinem vielgeplagten Kiefer beiseite gelegt und begnüge mich mit den bescheidenen Leistungen der alten. Daraus folgt nicht, daß ich bereit bin, den Zeit- und Geldaufwand, die Schmerzen, Störungen und eventuellen Enttäuschungen beim Versuch durch eine neue Hand3 auf mich zu nehmen: „Vom Bäumlein, das andere Blätter haben gewollt“.4
So kurz ich hier bin, sind doch schon drei neue Bücher5 zu mir gekommen. Die brave ‚Analytische Seelsorge‘ von Pfister; aber in all seinen Büchern steht eigentlich dasselbe. Immerhin bleibt zu erwägen, ob die Analyse an sich wirklich zum Aufgeben der Religion führen muß. ‚Die Krise der Psychologie‘ vom hiesigen Philosophen Bühler, ein ungeordnetes Geschwätz. Ranks ‚Genetische Psychologie I‘ zeigt ihn in voller Manie, verworren, unfaßbar, frech aggressiv. Beweis, daß beim Polemisieren innerhalb der Psychoanalyse so wenig herausschaut wie vordem bei der Polemik nach außen, der ich darum ausgewichen bin. R. kokettiert mit Jung, Adler6 und Stekel, das Unbewußte ist ein mystischer Begriff, die Sexualität hat man sehr überschätzt, von der Sexualität des Kindes weiß man nicht mehr als von der des Neugeborenen, was mehr scheint, hat man ihm suggeriert, der Kastrationskomplex ist nie erlebt worden, und ähnlicher Unsinn mehr. Endlich muß man die empirische Arbeitsweise aufgeben und die Terminologie ändern. Wenn man nachsieht, was R. einem dafür zu bieten hat, findet man ein Gewirr zerflatternder Worte in seiner Hand.
Es wird längere Zeit brauchen, bis ich einsehe, daß man verrückt werden muß, um die Wahrheiten zu entdecken, die ich mißverstanden habe. Unterdes enthalte ich mich der Kritik. Andere will ich nicht abhalten. Übrigens habe ich unlängst an einem großen Beispiel der Antike verstanden, warum ich soviel Abfall und Untreue erleben mußte. Kaum eine Person hat soviel Undank erfahren wie Julius Caesar. Endlich wurde er von lauter Leuten ermordet, denen er verziehen, das Leben geschenkt oder Wohltaten erwiesen hatte. Das deckt auch meinen bescheideneren Fall. Sonst tradiert der Lehrer dem Schüler 95% der Wissenschaft und gibt 5% vom Eigenen hinzu; von mir haben sich die Schüler 95% ihrer Wissenschaft holen müssen. Das ist schwer zu ertragen, das gibt mehr Material und stärkere Motive für den Undank, da lohnt er sich erst. Also wieder kein Wunder.
Nehmen Sie meine Schrift so hin, zeitweise ist sie nicht besser, wie durch Krampf entstellt, dann wieder ganz wie früher.
Ich grüße Sie und Mirra (noch in Franzensbad?) herzlich
Ihr Freud
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S.
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